Mit dem Beginn der Individualentwicklung erkunden wir über die visuell-kinästhetisch gesteuerten Greifbewegungen unserer Hände und die Fortbewegungen des gesamten Körpers die Kräfteverhältnisse unseres Lebensraums. Die Bildung der Gleichgewichtsstruktur unseres Anschauungsraums schafft die Voraussetzung für die motorische Koordination der Greifmuskeln unserer Hände, die sich bereits in der Zielbewegung auf das erwartete Gewicht und den Gleichgewichtszustand des Objektes einstellen. Jede Form der Sensomotorik des Körpers beruht auf dem Prinzip des Kräftegleichgewichts der Natur.

Sind die Dinge instabiler, stabiler, leichter oder schwerer als vorausgesehen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Handlungsabsicht misslingt. Die Aufrechterhaltung der Balance im Stehen und in der Fortbewegung bildet eine weitere Grundfähigkeit, die wir mit der Aufrichtung unseres Körpers von der horizontalen Bezugsebene der Topographie entwickeln. Die statischen und dynamischen Bedingungen zur Aufrechterhaltung der Balance spiegeln sich in der Gleichgewichtsstruktur unseres Anschauungsraums wider. Da wir nicht mehr von diesem Wissen absehen können, stehen, liegen, fallen oder steigen für uns selbst Landschaften, Wolken, Gebäude, Körper, Linien und Flächen.

Auch die Konzepte der Proportion und Symmetrie lassen sich unmittelbar auf den Aufbau unseres Körpers zurückführen, obgleich wir sie darüber hinaus zur Klassifizierung und Bewertung aller Gleichgewichtszustände unseres Anschauungsraums nutzen. Über die multisensuelle Auseinandersetzung mit der Umwelt lernen wir zumeist unbewusst, die Haltung und den Bewegungstonus aller Menschen und Dinge zu deuten und zu bewerten. Wir registrieren jede Abweichung im Kräftegleichgewicht des Muskel- und Gelenksystems, da wir dahinter intuitiv Verwachsungen oder Schädigungen vermuten, die den Erhalt der Spezies gefährden können. Die ästhetische Bewertung der Schönheit oder Hässlichkeit von Menschen, Räumen und Dingen wird bis heute maßgeblich von der anschaulichen Wahrnehmung ihres inneren Gleichgewichtszustandes beeinflusst.

Publikation „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“