Für Menschen mit normalem Sehvermögen ist die Vorstellung von einem Leben außerhalb der sichtbaren Welt unmöglich. Selbst bei völliger Dunkelheit, ganz gleich ob im Traum- oder Wachzustand, bleibt uns die erworbene Gedächtnisreferenz des Anschauungsraums in der Vorstellung zugänglich. Sobald wir einmal gelernt haben zu sehen, können wir daher nicht mehr von einer räumlich-visuellen Interpretation unserer Lebenswelt absehen. Selbst Bilder werden zur Projektionsfläche unserer Vorstellungen. Nach einer Erblindung hingegen tritt die wechselseitige Abhängigkeit zwischen der inneren und äußeren Welt klar zu Tage. Die intelligible Welt existiert wie zuvor in unserem Gedächtnis. Sie bietet uns jedoch nur insoweit Orientierung, wie uns die Sinnesmedien Farbe und Licht Bedeutungen und Handlungszusammenhänge vermitteln.

Der Glaube an eine Umwelt, deren Zuständigkeiten uns über die empirische Beobachtung objektiv erkennbar sind, zieht sich tief in das Wissenschaftsverständnis unserer Zeit. Daran werden auch die Fakten der modernen Neurowissenschaften so schnell nichts ändern. Die Wirklichkeitsvorstellungen und Werte von Gesellschaften werden von der sehfähigen Mehrheit bestimmt, für welche sich die Identität von Menschen, Städten und Artefakten auf anschauliche Weise zeigt.

Wenn wir die Welt dagegen mit den „Augen eines Erblindeten“ wahrnehmen, müssen wir unsere Wirklichkeitsvorstellungen über Worte, Gerüche, Töne, Formen, Bewegungen und Materialien verräumlichen. Der visuelle Sinn hat sich im Verlauf der Evolution zu unserer primären Quelle von Erfahrung entwickelt, weshalb wir von Geburt an lernen, uns innerhalb der Zeichenstruktur aus Farbe und Licht zu orientieren. Aus den Konsequenzen unserer multisensuellen Erfahrungen bildet sich unsere anschauliche Wissensstruktur im Gehirn. Darauf gründet sich jede Form der Erkenntnis und Verständigung mit der natürlichen und soziokulturellen Umwelt. Unsere Lebensweise, die Gestaltung unserer Städte und Artefakte uns selbst die Struktur der Wortsprache bilden einen integralen Bestandteil unserer anschaulichen Vorstellungswelt.

Publikation „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“