Die Trennung zwischen Körper und Geist lässt sich auf den Gebrauch von zwei unterschiedlichen Beschreibungssystemen zurückführen, die uns bis heute unvereinbar schienen. Seit kurzer Zeit liegen uns empirische Ergebnisse zu den biokybernetischen Prozessen in unserem Gehirn vor, die in Wechselwirkung mit unseren Erlebnis- und Verhaltenszuständen untersucht werden können. Danach verkörpert sich unser Geist auf die gleiche Weise, wie sich unser Körper vergeistigt. Ursache und Wirkung oder Aktion und Reaktion stehen in einem kausalen Verhältnis. Aus den Wirkungen von Gehirnschädigungen auf unsere Wirklichkeitsvorstellungen werden die Bindungen zur materiellen Substanz unseres Nervensystems erkennbar. Wir können beobachten, in welcher Form unser Wissen sowie die Fähigkeiten und Fertigkeiten zu dessen Anwendung die anschauliche Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung bestimmen.

Durch die spezifischen Leistungsdispositionen unseres Nervensystems leben wir jeder in einer der unzähligen möglichen Welten, deren Abgleich permanent über alle Formen der Umweltkommunikation erfolgt. Menschen, deren räumlich-visuelle Kompetenz in Folge einer Gehirnschädigung beeinträchtigt wurde, passen ihre Wirklichkeitsvorstellung an die noch funktionsfähigen Leistungsdispositionen ihres Gehirns an. Sie beseitigen die Widersprüche im Erklärungsmodell ihrer Lebenswirklichkeit und stellen hierüber ihre Denk- und Handlungsfähigkeit wieder her. Problematisch wird es nur dann, wenn ihre neue Welt im Widerspruch zur gesellschaftlich akzeptierten Realität steht.

Die Einzigartigkeit unserer Weltsicht wird deutlich, wo immer unsere Denk- und Handlungsweisen Widersprüche provozieren. Normal ist das Gewohnte. Realität dagegen bezeichnet unsere Konventionen oder die Verständigung innerhalb von Gesellschaften auf ein gemeinsames wissenschaftlich oder religiös fundiertes Denk- und Handlungsmodell. Sobald wir akzeptieren, dass jeder Mensch eine andere Welt wahrnimmt, können wir uns die Divergenz der individuellen Standpunkte und Sichtweisen gezielt für die methodische Förderung der Intelligenz- und Kompetenzentwicklung nutzbar machen.

Publikation „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“