Kolumne Magazin Colore
Ab dem Jahr 2023 erscheint von mir in jeder neuen Ausgabe des Brillux Architekturmagazin colore eine Kolumne „Farbbetrachtungen“ zu wechselnden Themen der Farbpsychologie. Die neue Ausgabe „PFIRSICHGELB“ steht ab jetzt zum kostenfreien Download auf der Website des Magazins COLORE bereit.
Farbe als Entwurfswerkzeug
Die Bedeutung der Farbe in der Architektur im Laufe der Zeit
Bis vor wenigen Jahrzehnten war Farbe eines der
drei primären Entwurfswerkzeuge der Architektur.
Le Corbusier, der wahrscheinlich einflussreichste Architekt der Moderne, sagte in seiner ‚Polychromie Architecturale‘ zur Bedeutung der Farbe für den Entwurfsprozess: „Die Farbe ist in der Architektur ein ebenso kräftiges Mittel wie der Grundriss und der Schnitt. Oder besser: die Polychromie, ein Bestandteil des Grundrisses und des Schnittes selbst.“
Diese Aussage wirkt heute geradezu paradox. Zum einen, weil sich die Moderne durch die Abwesenheit einer lokal, funktional und inhaltlich differenzierten Farbgestaltung von der Baukultur der Vergangenheit unterscheidet, und zum anderen, weil die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Wirkungen von Licht- und Körperfarben auf die Wahrnehmung von Architektur wie das Erleben und Verhalten ihrer Nutzer innerhalb der zeitgenössischen Entwurfslehren fehlt. So hat es mich auch für meine eigenen Arbeiten viel Recherchezeit gekostet, um im europäischen Raum aktuelle Praxisbeispiele zu finden, bei denen Farbe keine oberflächliche Buntheit, sondern ein wesentliches Entwurfswerkzeug ist. Eine zeitgemäße wissenschaftlich fundierte Theorie zur Anwendung der Farbe als Entwurfswerkzeug gibt es bis heute nicht. Da möchte ich gerne gegenwirken und in gewisser Weise hier den Anfang machen.
Funktionaler Bestandteil der Architektur
Farbe wird zu einem Problem für den Entwurfsprozess und die Architektur selbst, wenn man sie auf ihre bloße Erscheinung reduziert. Denn hierdurch wird Farbe zum Ornament, zur Verzierung und Dekoration. Eine solche Anwendung von Farbe passt nicht zum Wesen einer zeitgemäßen Baukultur und widerspricht zu Recht auch dem Selbstverständnis moderner Architektinnen und Architekten. So wird das Thema „Mensch und Farbe“ im weltweit erfolgreichsten Planungshandbuch für Architekt/-innen – geschrieben von dem Bauhausschüler Ernst Neufert, in 19 Sprachen übersetzt, stetig weiter aktualisiert und inzwischen über 500.000-Mal verkauft – lediglich auf einer einzigen Seite abgehandelt. Doch woher stammt das Fehlurteil eines solchen Reduktionismus, der das Sinnesmedium Farbe auf seine Äußerlichkeit reduziert?
Von der Ideologie einer weißen Moderne
In der Renaissance, die mit einer Rückbesinnung auf die Kultur der Antike verknüpft ist, wurde Weiß zur Symbolfarbe der Aufklärung und Wissenschaft sowie eines Fortschritts, der sich von althergebrachten Konventionen und Verengungen des Denkens befreit hat. Zur Ideologie wurde die „weiße Moderne“ jedoch erst durch das Fehlurteil des berühmten deutschen Archäologen Johann Joachim Winckelmann, der die puristisch weiße Farbe antiker Marmortempel und Skulpturen im 18. Jahrhundert zum ewigen Schönheitsideal erklärte. Doch die Bauten und Plastiken der griechischen Antike waren ebenso buntfarbig bemalt und ausgeschmückt wie die Tempel Mesopotamiens, Ägyptens, Indiens und Amerikas oder die Höhlen, Pagoden, Moscheen, Synagogen, Kirchen und Profanbauten der gesamten Welt. Als diese Nachricht 1817 nach einer Veröffentlichung von Johann Martin von Wagner, Kunstagent des bayerischen Königs Ludwig I., die Runde machte, traf die bis dahin als barbarisch deklarierte Praxis viele Menschen wie ein Schock. Der Künstler Auguste Rodin soll sich heftig an die Brust ge- schlagen und dabei ausgerufen haben: „Ich spüre es hier, dass die Gebäude niemals bunt waren!“ Die Tatsache, dass die Fachwelt nach wie vor Probleme damit hat, einen solchen, allgemein bekannten Sachverhalt anzuerkennen, liegt an der starken Symbolkraft der Farbe Weiß.
Weiß als Leitbild des industriellen Bauens
Das Weiß der frühen Moderne war ein revolutionäres Symbol der Erneuerung, das im polychromen Kontext der vorhandenen Baukultur sehr gut sichtbar war. Gute Beispiele hierfür sind die Villen von Adolf Loos, die außen weiß, im Inneren hingegen wie alle Bauten der klassischen Moderne, polychrom gestaltet sind. Kein Architekt der klassischen Moderne war zu dieser Zeit bereit, seine Ideologie über das Wohlbefinden des Menschen zu stellen. Farbe wurde in dieser Phase noch ganz selbstverständlich als Entwurfswerkzeug gebraucht. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Durch die Verbreitung neuer Baustoffe wie Beton, Stahl und Glas, die anfangs noch verkleidet wurden, aber mit fortschreitendem Gebrauch zunehmend auch offen gezeigt werden durften, transformierte sich das Erscheinungsbild der modernen Architektur. Im Vergleich mit den Erscheinungsbildern der vom technologischen Wandel geprägten Metropolen Nordamerikas, welche für die europäische Avantgarde zum Leitbild wurden, wirkten die kleinteiligen polychromen Städte und Dörfer Europas rückständig, wie Zeugen einer überkommenen Vergangenheit.
Von der individuellen Handwerkskunst zur anonymen Massenarchitektur
Mit dem Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte verschwand die Polychromie hingegen zunehmend aus dem Erscheinungsbild der europäischen Architektur. Historische Baumaterialien wie Ziegel, Natursteine, Holz, Lehmputze und Erdfarben sowie die handwerklich hergestellten Bekleidungen und Bemalungen behinderten den Prozess der Modernisierung und wurden daher weitgehend aus den Stadtbildern und Innenräumen verbannt. Die moderne Architektursprache der „Neuen Welt“ wurde zum Symbol des Fortschritts und barg zugleich die Möglichkeit zur Loslösung und Distanzierung von der als reaktionär und gescheitert empfundenen Vergangenheit. Viele Reste der zerbombten Altstädte wurden daher folgerichtig nicht wieder aufgebaut, sondern abgeräumt und durch großteilige monochrome Stadtquartiere ersetzt. War Weiß dabei anfangs noch die Symbolfarbe der Moderne, wurde sie nach und nach zur Standardfarbe innerhalb der gesamten Architektur. Im Schatten von Weiß vollzog sich zudem nahezu unbemerkt der Siegeszug einer anderen unbunten Farbe. Baustoffe wie Asphalt, Beton und Stahl sorgen bis heute dafür, dass der Grauanteil im Stadt- und Landschaftsbild stetig wächst, während die Polychromie der pflanzlichen Natur und der Altstädte im gleichen Maße schrumpft.
Über die Entfremdung des Menschen von seiner Architektur
Das Ende der Polychromie gleicht demnach einer neuen Haltung in der Architektur, die nicht mehr die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen, sondern die vordefinierten Anforderungen einer anonymen Masse als Bezugspunkt nimmt. Wie die Nutzer den gebauten Raum konkret erleben und was für einen Einfluss Architektur auf ihr Wohlbefinden, die Gesundheit und das Verhalten der betroffenen Menschen hat, bleibt im Entwurfsprozess unerkannt. Die negativen gesellschaftlichen Folgen einer solchen Entwurfspraxis sind seit langem Gegenstand von Kritik und lösen dennoch kaum Verhaltensänderungen aus. Zur Veranschaulichung der Konsequenzen, die aus einer fehlenden Auseinandersetzung mit den Wirkungen von Farbe einhergehen, zitiere ich hier aus dem persönlichen Erleben einer Betroffenen: „ … ich arbeite zurzeit im Klinikum X auf der neonatologischen Intensivstation. Im nächsten Sommer werden wir umziehen in einen Neubau. Die Pflege der Frühgeborenen und deren Eltern beinhaltet so viel mehr als ‚nur‛ Intensivmedizin. Leider haben wir keinerlei Lobby, was die Farbgebung betrifft. Weiße Wände, LED-Spots, …. ein tristes Erleben. Gerätetechnisch wird alles vorhanden sein, aber das, was unsere spezielle Pflege ausmacht, geht total unter. Die Patienten und deren Eltern verbleiben oft Monate auf unserer Station. Uns Pflegekräften stehen quasi die Haare zu Berge. So kann keine Atmosphäre des Wohlfühlens aufkommen. Können Sie helfen, uns eine gute Arbeitsatmosphäre und den Frühchen ein gutes Ankommen in dieser Welt zu ermöglichen?“
Farblos, freudlos, lieblos
Durch das Verschwinden der Farbe in den Städten und auf dem Land vergrößert sich die Entfremdung des Menschen von seinem Lebensraum, da dieser evolutionär in der Vielfalt einer polychromen Umwelt beheimatet ist. Der Philosoph Karl Popper bezeichnet den Zusammenhang zwischen der genetisch vererbten Disposition von Geist und Körper auf der einen Seite und der Lebensumwelt auf der anderen Seite als „Erwartung“. Wir bewegen uns, lernen tanzen, wir sprechen und singen, wir sehen unsere Lebenswelt vielfarbig und gestalten sie auch so, weil wir zum einen die genetische Disposition dazu haben und weil wir uns zum anderen nur so entfalten, nur so den für uns bestimmten Reichtum der Welt erleben und ganz wir selbst sein können. Die Farbigkeit der Umwelt ist nicht einfach da, sie ist genetisch für uns bestimmt und hat eine evolutionäre Zweckbestimmung für unser Leben. Nur deshalb können wir sie sehen und fühlen uns beheimatet. Weiße und graue Lebens- und Arbeitswelten verursachen zwar nicht allen, doch dem überwiegenden Teil der Menschen ein generelles Unwohlsein. Hierzu möchte ich eine weitere Pflegefachfrau zu Wort kommen lassen, die ihr persönliches Erleben bei einem anderen Projekt in Worte gefasst hat und damit den Zusammenhang zwischen Farbe und Wirkung auf den Punkt bringt: „Im Moment ist es ja so, dass es hier keine Farbe gibt, es ist ja tatsächlich sehr farblos und auch sehr lieblos gestaltet.“
Zur Resonanzfunktion der Architektur
Diese Frau vermisst also in der Gestaltung ihrer Arbeitsräume die Achtsamkeit, die Zuwendung und die Wertschätzung, die für ihre Arbeit mit anvertrauten Menschen selbstver- ständlich ist. Architektur wirkt liebevoll gestaltet, insoweit sie den grundlegenden und spezifischen Bedürfnissen des Menschen Rechnung trägt, einen Resonanzraum schafft, wie es der Soziologe Hartmut Rosa formuliert. Allgemeine Bedürfnisse wie das Streben nach Schönheit, Wohlbefinden, Gesundheit, Glück und Wertschätzung sind grundlegend für gute Arbeit und ein gelingendes Leben. Spezifische Bedürfnisse folgen hingegen aus dem Kontext der Erlebnis- und Handlungssituation, dem Genius Loci sowie den konkreten Wünschen der Nutzerinnen und Nutzer vor Ort. Liebevoll gestaltete Architektur schafft einen Beziehungsraum, in dem sich der Mensch im besten Sinne „beheimatet“ fühlen kann. Bei der Einbindung von Farbe in den Entwurfsprozess geht es daher nicht um eine oberflächliche Buntheit, son- dern einzig und allein um Resonanz. Es geht um das Gestalten der Wirkungen, die Farbe bei den betroffenen Menschen im Kontext der jeweiligen Lebens- und Arbeitssituation auslösen soll.
Color follows function – Die Farbe folgt der Funktion
Der von Louis Henry Sullivan stammende und mit der Übernahme der Bauhaus-Lehre in den Entwurfsfakultäten der Nachkriegszeit berühmt gewordene Satz „Form follows function“ gilt für die Farbe genauso wie für den Grundriss und Schnitt. Farbe ist eine Kategorie der sinnlichen Wahrnehmung, die weit mehr umfasst als die reine Angabe von Farbtönen, Lichtwerten und Materialkennzeichnungen. Für die Entwicklung des Farbkonzepts sind die Bedürfnisse der Nutzer/-innen primär, die persönlichen Ansichten und Farbpräferenzen der Entwurfsverfasser/-innen hingegen sekundär. Der Satz „The Medium ist the message“ stammt von Marshall McLuhan. Nach seiner Theorie vermitteln uns Medien nicht nur Inhalte, sondern sie bestimmen die Botschaft, indem sie den Inhalt strukturieren. Für die Anwendung der Farbe im Entwurfsprozess folgt daraus:
- Die Farbgestaltung strukturiert die Wahrnehmung des gebauten Raums.
- Die Farbgestaltung bestimmt, was sichtbar ist und was unsichtbar wird.
- Die Farbgestaltung legt fest, wer sich vom Inhalt konkret angesprochen fühlt.
- Die Farbgestaltung beeinflusst, wie eine Situation wahrgenommen wird.
- Die Farbgestaltung steuert, wie der Mensch auf eine Umweltsituation reagiert.
Warum wir nicht Farben, sondern Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte gestalten
Farbe ist kein schöner Schein, sondern ein Sinnesmedium, das uns mit der Welt verbindet. Unsere Farbwahrnehmung bestimmt die Art und Weise, wie wir in der Welt verortet sind, wie wir Menschen, Dingen und Räumen gegenübertreten. Diese Kraft haben Farben, weil wir sie mit Bedeu- tungen assoziieren, die uns im Augenblick des Erlebens zu 99% unbewusst bleiben. Das können Farben umso mehr, weil diese Bedeutungen psychische wie physische Reaktionen in unserem Körper auslösen, die unsere Erwartungs- haltung an die Dinge und Ereignisse, denen wir in der Außenwelt gegenüberstehen, in höchstem Maße determiniert. Der Philosoph Karl Popper formuliert diesen Sachverhalt in seiner evolutionären Erkenntnistheorie wie folgt: „Erwartungen sind Formen des Wissens, Fühler, die wir in die Umwelt ausstrecken.“ Formal bestimmen wir die Farbe durch physiologische Parameter wie Buntheit, Helligkeit, Sättigung, Tiefe, Brillanz und Kontrast. Inhaltlich bestimmt die Farbe uns, sie legt fest, was wir fühlen, was wir tun und wie wir die Welt sehen. Wenn ich heute die Farben für gebaute Räume auswähle und komponiere, beziehe ich mich daher nicht auf meine persönlichen Vorlieben oder meine Intuition, sondern auf die Erwartungen der Menschen, die von meinen Entscheidungen betroffen sind. Ich gestalte die Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte der Menschen, für deren Wohlbefinden ich verantwortlich bin. Denn Farbgestaltung ist für mich weder Dienstleistung noch freie Kunst, sondern der Dienst am Menschen selbst.
Quellenverzeichnis
1 Le Corbusier: Polychromie Architecturale – Le Corbusiers Farbenklaviaturen von 1931 und 1959, HG Arthur Rüegg, Birkhäuser Verlag 2015
2 Axel Buether: Farbe: Entwurfsgrundlagen, Planungsstrategien, visuelle Kommunikation. DETAIL Praxis Institut für international Architektur-Dokumentation, München 2014
3 Johannes Kister (Hrsg.), Ernst Neufert: Bauentwurfslehre. Grundlagen, Normen, Vorschriften, Springer Vieweg, Wiesbaden 2018
4 Vinzenz Brinkmann, Ulrike Koch-Brinkmann (Hrsg.): Bunte Götter – Golden Edition: Die Farben der Antike. Prestel, München 2020
5 Victoria Finlay: The Brilliant History of Colors in Art. Yale University Press, New Haven 2014, S. 21
6 Gottfried Semper: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten Altona 1834; ders.: Die Anwendung der Farben in der Architectur und Plastik, Heft 1, Rom 1836
7 Anders V. Munch: Der stillose Stil: Adolf Loos. Brill, Leiden 2005
8 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1965. Jan Gehl: Städte für Menschen. Jovis Verlag, Berlin 2015
9 Anmerkung: Diese subjektive Aussage liegt mir in Form einer persönlichen Mail vor und wurde von mir durch eine repräsentative Personalbefragung als generelles Problem der Belegschaft verifiziert. 10 Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen. Pieper, München 1994
11 Interview zur Helios Studie „Farbe im Gesundheitsbau”, https://www.youtube.com/watch?v=43Dp9zB9o6M
12 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, Berlin 2016
13 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Verlag der Kunst 1994 [1964]