Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit in der Architektur

Architektur ist eine Kunst der Illusion. Sie formt die Welt, wie wir sie erleben, und gibt hochkomplexen technischen Strukturen eine Form, die uns dient, inspiriert und manchmal sogar verzaubert. Doch gerade diese Verwandlung der technischen Realität in eine sinnliche Erfahrung wirft Fragen nach Ehrlichkeit und Authentizität auf – besonders, wenn es um Farbe und Material geht. Weiß, Grau und Schwarz werden oft als „authentisch“ empfunden, während Buntfarben zu „Dekor“ degradiert werden. Doch ist diese Sichtweise wirklich so wahrhaftig, wie sie erscheint?

Die weiße Moderne und ihre Illusionen

Weiß – die Symbolfarbe der Moderne. Für Architekten wie Le Corbusier, Walter Gropius oder Mies van der Rohe wurde es zur Quintessenz der Schlichtheit und Reinheit. Es war ein Manifest gegen den „Ornament als Verbrechen“, wie Adolf Loos es 1908 formulierte. Doch diese Wahl war keineswegs neutral. Vielmehr trug sie religiöse, kulturelle und sogar illusionistische Züge. Adolf Loos sprach von den „weißen Mauern Zions“, einer Referenz, die Architektur beinahe heiligte. Die Moderne machte sich auch die vermeintlich weiße Antike zum Vorbild – ein Missverständnis, denn antike Tempel waren bunt bemalt.

Das einheitliche Weiß der Moderne stellt eine Illusion dar: Es suggeriert eine Ehrlichkeit und Einfachheit, die es oft nicht gibt. Die weißen Mauern der Kykladen oder des Mittelmeerraums, die so oft als Inspiration dienen, sind ebenfalls eine Illusion – sie passen in ein Klima mit heißen Sommern und gleißendem Sonnenlicht, nicht jedoch in Regionen mit kalten Wintern und grauen Herbsttagen. Ihre Haptik und Farbgebung resultieren aus einer spezifischen Notwendigkeit, nicht aus einer universellen Wahrheit.

Farbe als Dimension der Wahrnehmung

Farben – und damit auch die Materialwahl – sind weit mehr als nur dekorative Hülle. Sie schaffen Atmosphären, beeinflussen Stimmungen und können Räume öffnen, wo keine Fenster sind. In der Gesundheits- und Pflegearchitektur etwa ist Farbe keine Nebensächlichkeit, sondern essenziell für das Wohlbefinden von Patienten und Personal. Dunkle Flure und kahle Wände entfremden, während Bildmotive und warme Farbtöne Geborgenheit und Identität schaffen.

Selbst Materialien, die auf den ersten Blick „unehrlich“ wirken – wie Holzoptiken auf PVC – haben ihre Berechtigung, wenn sie funktionale Anforderungen mit sinnlichen Bedürfnissen verbinden. Ein Holzdekor kann natürliche Wärme vermitteln, wo echter Holzboden aus Kosten- oder Pflegegründen nicht infrage kommt. Die Illusion ist hier kein Betrug, sondern ein Dienst am Nutzer. Studien belegen, dass Menschen sich in farblich und gestalterisch durchdachten Räumen wohler fühlen. Warum sollten wir darauf verzichten?

Architektur als Interface

Architektur ist ein Interface. So wie das Display eines Smartphones die darunterliegende Technik verbirgt und einen Zugang für den Nutzer schafft, verhält es sich auch mit Gebäuden. Die Fassade und der Innenraum kleiden und ordnen die Struktur. Gottfried Sempers Bekleidungstheorie aus dem 19. Jahrhundert liefert hier eine wertvolle Grundlage: Architektur ist stets ästhetische Hülle und Funktion zugleich. Sie ist nicht dazu da, uns die nackte Konstruktion zu zeigen, sondern eine nutzbare und ansprechende Umwelt zu schaffen.

Die Frage nach „Materialehrlichkeit“ wird oft zu einseitig gestellt. Moderne Gebäude bestehen aus hochkomplexen mehrschichtigen Baustoffen, die technische, thermische und ästhetische Anforderungen gleichzeitig erfüllen müssen. Ein weißer Anstrich, der diese Komplexität verdeckt, ist kein Ausdruck von Ehrlichkeit, sondern eine bewusst gewählte Inszenierung – eine Illusion, die dient. Warum sollten wir ähnliche Inszenierungen bei Farben und Motiven verteufeln, die ähnlich nützlich sind?

Die Illusion der Wahrnehmung

Die neueren Erkenntnisse der Gehirnforschung zeigen uns, dass unsere gesamte sichtbare Welt im Grunde eine Illusion ist. Sie basiert auf der physischen Existenz von Materie und Energie, wird jedoch ausschließlich durch die Wahrnehmungen konstruiert, die unsere Sinne uns übermitteln. Diese Sinne haben sich in einer Symbiose mit der Natur nach den Prinzipien der Evolution entwickelt. Sie sind darauf angewiesen, Variationen in der Umwelt wahrzunehmen – ob in Farben, Klängen oder anderen Sinnesdimensionen. So wie Musik erst durch die Variationen von Tönen und Rhythmen existiert, lebt auch unsere visuelle Wahrnehmung von der Vielfalt der Farbigkeit in der Natur. Architektur, die auf Variationen und Sinnesreize verzichtet, verliert daher an Resonanz mit unseren evolutiv geprägten Bedürfnissen und wirkt entfremdend.

Architektur sollte dem Menschen dienen, seine grundlegenden Bedürfnisse nach Schönheit, Wohlbefinden und Identität erfüllen. Diese Bedürfnisse sind vielfältig und wandelbar. Die Rückkehr zu einer starren, vermeintlich „ehrlichen“ Farbgebung beraubt uns dieser Vielfalt. Farbe ist kein Dekor, sondern eine Dimension der Architektur, die genauso sorgfältig geplant sein muss wie die Konstruktion selbst.

Architektur ist Illusion, und das ist keine Schwäche. Es ist ihre größte Stärke. Sie schafft eine Welt, die uns nicht betrügt, sondern inspiriert – eine Welt, die uns dient, indem sie uns mit ihrer Schönheit und Funktionalität umgibt. Die Herausforderung besteht darin, diese Illusion so zu gestalten, dass sie ehrlich im Dienste des Menschen steht. Nur so kann Architektur das leisten, was sie wirklich ausmacht: eine Verbindung zwischen Technik, Kunst und Mensch zu schaffen.

Architektur ist eine zutiefst soziale und kommunikative Disziplin, bei der die Wahrnehmung und Wirkung gebauter Räume auf ihre Nutzer im Zentrum steht.

Axel Buether 22.11.2024