Haptik und (Wahr)Nehmung

Worin die haptischen Qualitäten der Farbe bestehen und wie diese Erscheinungsform des Lichtes doch ganz reale Tastempfindungen von Oberflächenstrukturen, Raumformen, Temperaturen, Orientierungen, Festigkeiten und Gewichten hervorrufen, möchte ich, nach einer Einführung in die Begrifflichkeiten und die verwendete Theorie der Wahrnehmung, darstellen. Der Begriff Wahrnehmung selbst verweist auf die haptische Aktion des Nehmens und Bewertens, des Greifens und Begreifens, des Erfassens, der Überlegung und der Vorstellung. Auch im lateinischen Ursprung des Begriffes „percipere“ steckt die Handlung des Nehmens und Empfangens. Als haptische Wahrnehmung bezeichnet man die Sinneswahrnehmungen, welche uns auf Grund der Oberflächen- und Tiefensensibilität der Haut sowie der kinästhetischen Sensibilität von Gelenken, Muskeln und Sehnen ermöglichen, Informationen über den eigenen Leib und seine Umwelt zu lokalisieren und zu bewerten.

Die Farbe beschreibt die Vielzahl von optischen Sinneseindrücken, die entstehen, wenn Licht auf die Netzhaut des Auges fällt. Sie umfasst das gesamte sichtbare Spektrum einer bestimmten Wellenlänge oder eines Wellenlängengemisches und wird damit zum Medium jeder möglichen visuellen Information. Jede Farbe veranlasst uns zu einer bestimmten Weise des Sehens, stimmt unseren Leib auf die erlebte atmosphärische Qualität ein und bewirkt damit eine bestimmte Modifikation des phänomenalen Leibes, wie Merleau-Ponty ihn bezeichnet. Das Sein eines Gegenstandes, führt er dazu weiter aus, lässt sich erst im Durchgang durch die offene Reihe möglicher Erfahrungen von ihm identifizieren. Der Mensch als Empfindender ist mit dem sinnlich empfundenen Gegenstand verbunden und so zeigt sich die Farbe durch unser Vermögen sie zu sehen, die Form durch unser Vermögen sie zu tasten. „…mein Blick paart sich mit der Farbe, meine Hand mit dem Harten und Weichen, und in diesem Austausch zwischen Empfindungssubjekt und Sinnlichem ist keine Rede davon, dass das eine wirkte, das andere litte, das eine dem anderen seinen Sinn gäbe. Ohne meinen forschenden Blick, meine tastende Hand und ehe mein Leib sich mit ihm synchronisiert, ist das Sinnliche bloß eine vage Erregung.“ (Merleau-Ponty, Maurice, „Phénoménologie de la Perception“ 1945, Quelle: „Phänomenologie der Wahrnehmung“, de Gruyter Studienbuch Berlin, 1966)

Korrelationen zwischen der haptischen und der visuellen Wahrnehmung

Die visuell wahrnehmbaren Informationen entnehmen wir dem uns umgebenden Licht durch die Erkundungsbewegungen der Augen. Dabei spricht Gibson ausdrücklich von einer Entsprechung zwischen dem Abtasten einer Oberfläche mit den Händen und dem visuellen Abtasten einer optischen Situation nach ihren prägnanten Eigenschaften. (Gibson, James J.; „Die Sinne und der Prozess der Wahrnehmung“ (1966), Verlag Hans Huber Bern,
1973 sowie Gibson, James J.; „Die Wahrnehmung der visuellen Welt“ (1950), Beltz Verlag Weinheim und Basel
1973) Tasten wir im Dunkeln nach einem Gegenstand, so nehmen wir eine Folge von Berührungsreizen wahr und nicht ein simultanes Muster, wie es sich in der optischen Situation zeigt. Erst die Konstanz innerhalb der Tasterfahrung vermittelt uns einen Eindruck von der simultanen Beschaffenheit des Gegenstandes. So zeigt sich der Sinn der Berührung nicht unmittelbar, wie beim Sehen, sondern er erschließt sich erst, wenn uns genügend Informationen über den Gegenstand vorliegen. Dennoch führt die simultane Erfassung eines Gegenstandes zu einer Äquivalenz mit seiner sukzessiven Erfassung, wenn wir einen Körper ganz umfassen können. Das heißt, es wird dieselbe Information über die Form aufgenommen, wenn wir zum Beispiel einen Apfel abtasten, indem wir unsere Finger darüber wandern lassen oder diesen einfach in der Hand umschließen. Die meisten Gegenstände unserer Umwelt sind jedoch größer als unser Handraum, so dass wir diese nur sukzessiv abtasten können oder sie auch gar nicht mehr erreichen können. Das verdeutlicht die Leistungsfähigkeit des visuellen Sinns, welcher uns erlaubt, haptische Informationen zu erfassen, die weit über den Tastraum hinausgehen, vom Mikrobereich der Molekularbiologie bis hin zum Makrobereich der Erforschung des Universums. Sehen ist nach der Ansicht des Philosophen Berkeley ein vorausschauendes Berühren. (Berkeley, George „Principles of Human Knowledge“, (1710 Ersterscheinung) Oxford University Press 1999)

Dazu möchte ich die leiblich haptischen Empfindungen eines blinden zwölfjährigen Jungen über die Natur des Sehens wiedergeben, welche uns noch näher an das Verständnis der Ausdehnung des Tastraums durch den visuellen Sinn heranführen: „Wer sehen kann, stand mit mir durch einen unbekannten Sinn in Verbindung, der mich schon aus der Ferne gänzlich umfasste, mir folgte, mich durchdrang und vom Aufstehen bis zum Schlafengehen gewissermaßen beherrschte.“ (Senden, M. von „Raum- und Gestaltauffassung bei operierten Blindgeborenen vor und nach der Operation“, Verlag von J. A. Barth Leipzig 1932)

Der Einfluss des haptischen Systems auf die visuelle Orientierung im Raum

Da unser Leib nicht ein starrer Körper ist, sondern ein von Muskeln, Sehen, Knorpeln und Haut zusammengehaltenes System beweglicher Teile, haben wir ein räumlich differenziertes Erlebnis der Schwerkraft. Entscheidend für die Wahrnehmung der Lage aller unserer Körperteile in jedem Augenblick ihrer Bewegung sind die Rezeptoren in allen Gelenken, welche dem Gehirn Informationen über die Winkel der Glieder in ihrer relativen Verschiebung zueinander übermitteln und damit eine perfekte Orientierung unserer Lage im Raum ermöglichen. Die Farbwahrnehmung der Umwelt korreliert mit der Lage unseres Leibes im Raum. Wir deuten in den Erscheinungsweisen der Farbe nicht einen darin verborgenen Sinn, sondern die es zeigen sich uns die Bedeutungen unseres leiblichen Seins in der Welt durch das Medium der Farbe. Die Orientierung unseres Leibes erfolgt immer aufs neue nach unserem Erwachen aus dem Schlaf, wir kommen zu uns, indem wir uns orientieren, unsere Umwelt wahrnehmen, unseren Leib erfahren. Im Liegen ist unser Leib passiv bis zu einem der Lähmung vergleichbaren Zustand, bei dem alle Glieder sich der Wahrnehmung entziehen, wir dösen, träumen, schlafen. Richten wir unsere Handlung auf das Liegen, wird dieser Zustand unseres Leibes aktiviert, wir nehmen den Untergrund wahr, die Schwere der darauf liegenden Glieder, die haptischen Eigenschaften der Oberflächen wie die Wärme oder die Texturen, unser Leib kann schmerzen, weich liegen oder Härte empfinden, wir nehmen die Formen des Bodens wahr durch die Erfahrung der Verformung unseres Leibes. Die Farbe macht das Gefühl des Liegens sichtbar im Erlebnis der Horizontalität.

Jede Bewegung unseres Leibes ist eine Bewegung auf etwas zu oder von etwas weg, ist eine Orientierungsbewegung. Indem wir uns Aufrichten, bringen wir unseren Leib in ein Gleichgewicht, der aus dem Liegen nach oben strebt bis wir knien, hocken, sitzen und stehen. Dabei spüren wir die Schwere unseres Leibes, dessen Aufrichtung einer Kraft bedarf, die wir als Anstrengung wahrnehmen, die Überwindung der Passivität des Liegens in die Aktivität des aufgerichteten Seins in der Welt. Die Erfahrung des Stehens, das Finden unseres Gleichgewichtszustandes, visualisiert sich durch die Farbe im Erlebnis der Vertikalität. Wir stehen in uns, von der Ferse bis in den Scheitelpunkt bauen wir eine aktive, jedoch verhaltende Spannung auf. Dagegen ist unsere Fortbewegung eine fortwährende Fall- und Steigbewegung, welche im Stand beginnt und endet, woraus sich das visuelle Erlebnis der steigenden und fallenden Diagonalen begründet. Das vertikale Stehen ist mit einem Standpunkt verbunden, von dem aus wir unsere meist horizontal ausgebreitete Umwelt wahrnehmen, von dem aus sie zu unserer Umgebung wird. Der hier kurz angedeutete haptische Charakter unserer Leibeswahrnehmungen (Propriozeption) ist uns im Prozess der visuellen Orientierung in der Umwelt (Exterozeption) stets gegenwärtig.

Die Konstanz des Wahrnehmungseindrucks

Trotzdem sich das optische Bild der Netzhaut ständig erneuert, nehmen wir eine stabile und stofflich konstante Umwelt wahr. Gibson sieht das darin begründet, dass wir durch die erregten Rezeptoren der Netzhaut ausschließlich Relationen in den Anordnungen der Dinge wahrnehmen und diese konstant bleiben, auch wenn sich unser Körper oder unsere Augen bewegen. Die Dinge drehen sich deshalb nicht, wenn wir unseren Kopf neigen, sie gleiten nicht davon, wenn wir die Augen über das Panorama der Umwelt wandern lassen, sie haben keinen Rahmen, durch die Grenzen unseres Blickfeldes, sie verschwimmen nicht, auch wenn wir sie nicht ständig fokussieren und sie verschwinden auch nicht, wenn wir kurzzeitig die Augen schließen. Ein konstantes Bild der visuellen Umwelt existiert, physiologisch gesehen, weder auf der Retina, noch im Gehirn (Theorie von Newton), so dass Gibson davon ausgeht, dass auch keine Fixationen im Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden müssen, sondern dass die Konstanz des wahrgenommenen Bildes ausschließlich über die Invarianten der Wahrnehmungssituation, über ein Gefüge von Bildbeziehungen erzeugt wird. (Newton, Isaac „Opticks“ (Orig. 1704), Optik – Springer, Berlin 2001) Diese Bildbeziehungen sind synästhetisch erfahrene Eigenschaften des erlebten Raumes, so dass die Tasterfahrungen die visuellen Erfahrungen bestätigen, falsifizieren oder korrigieren, wie auch die anderen Sinne in dieser Weise interagieren.

Die Bipolarität der haptischen Wahrnehmung

Unsere Rezeptoren werden entweder durch unmittelbare oder durch mittelbare Erregungen stimuliert, so dass die verschiedenen Wahrnehmungssysteme Informationen direkt oder indirekt erhalten. Der Tastsinn ist nach dieser Betrachtung ein Nahsinn, der uns im direkten Kontakt mit dem Objekt der Reizung zu bipolaren Wahrnehmungsempfindungen verhilft. Wir können ein Objekt tasten, seine Form erkennen und seine Lage im Raum oder uns im Tastvorgang auf die Empfindungen unseres Leibes konzentrieren und die Bewegungen unserer Hände oder die Temperaturänderungen unserer Haut registrieren. Der visuelle Sinn ist ein Fernsinn, bei dem das betrachtete Objekt einen Mindestabstand zum Sinnesorgan haben muss, um wahrgenommen werden zu können. Das Licht ist der Mittler zwischen der Umwelt und dem Sinnesorgan, so dass eine Verifizierung der physischen Existenz unserer Umwelt nicht durch das Auge erfolgen kann. Auch die Wahrnehmung der inneren Zustände unseres Leibes bleibt dem haptischen Sinn vorbehalten.

Oberflächentastungen und Oberflächenfarben

Gegenüber der Monotonie der Tastmaterie steht die Polymorphie der Tastwelt, welche durch ihren Reichtum an Formen und Oberflächen auch auf die haptischen Qualitäten der Farbe verweist. Druck-, Vibrations- und Temperaturreize können nach ihrer Intensität unterschieden werden, sie erzeugen im Zusammenwirken qualifizierte Sinneseindrücke, wie auch die Farbmischungen des Lichtes und sie liefern ein Bild eines Tastfeldes, welches in wesentlichen Punkten dem des visuellen Feldes vergleichbar ist. Optische und haptische Felder erscheinen uns immer kontinuierlich, obgleich wir die Grenzflächen oder Oberflächen eines Objektes mit unseren Fingern oder der Fovea selten vollständig abtasten. Katz zieht darüber hinaus Parallelen zwischen den Oberflächenfarben und den haptischen Eindrücken von Oberflächen, den Oberflächentastungen. Auch bei der Wahrnehmung einer Oberflächenfarbe tritt die Form in den Hintergrund. Meist füllt dabei der Farbeindruck das gesamte optische Feld aus, so dass eine flächige Erscheinung entsteht. Wenn wir laufen, so erscheint uns der Boden nicht körperhaft, sondern als modulierte topographische Schicht, als Haut, welche die darunter liegende Masse begrenzt. Die Oberflächentastung kann wie die Oberflächenfarbe nur Aufschluss über die Materialqualitäten geben, nicht aber den Gegenstand als Objekt erfassen. Oberflächentastungen und -farben bieten dem Blick und dem Leib den Widerstand einer Haut, so dass unsere Wahrnehmung nicht darüber hinaus erfolgen kann. Die Grenzschicht behält ihren Oberflächencharakter bis zu dem Grad der Nachgiebigkeit, welcher ihr noch die grundlegende Eigenschaft der Undurchdringlichkeit belässt.

Raumhafte Farb- und Tastwahrnehmungen

Dringen wir mit dem Tastorgan unter die Oberfläche des Objektes, so erfolgt eine raumhafte Tastwahrnehmung, wie sie etwa beim Hindurchtasten des Knochens durch die Haut und das Gewebe entsteht. Von raumhaften Farben können wir sprechen, wenn wir etwas durch sie hindurch sehen können, wie es bei transparenten oder transluzenten Farberscheinungen möglich ist. Wie das Gewebe den Knochen überlagert, so wird durch die raumhaften Qualitäten der Farben auch die Überlagerung von Gegenständen und Materialien im optischen Feld sichtbar. Wie im haptischen Erlebnis, so gibt es auch im Farberlebnis einen Bereich, in dem die Wahrnehmung raumhaft wird. Ist ein Nebel nur sehr schwach, so behindert er kaum die Sicht auf die von ihm eingehüllten oder verdeckten Raumschichten, wird er stärker, so erreicht er den Punkt, bei dem seine körperhafte Raumwirkung am eindringlichsten sichtbar wird, wie eine zähe Masse dehnt er sich in die Tiefe. Wird er noch undurchdringlicher für den Blick, so verschwindet der Eindruck seiner Raumhaftigkeit, bis er als homogene Farbschicht einen geschlossenen flächigen Charakter aufzeigt. Die haptische Erfahrung von Nebel führt nicht bis zur Undurchdringlichkeit der Raumschicht, eher noch der Verlauf der akustischen Erfahrung. Jedoch beinhaltet die Bewegung unseres Leibes im Raum eine Vielzahl von raumhaften Tasterfahrungen, wie das Laufen durch Wasser- und Morast oder die Aufnahme von Nahrung mit unterschiedlicher Konsistenz. Raumhafte Tast- und Farbwahrnehmungen werden umso intensiver, je körperhafter die Gegenstände werden, welche hinter der durchdrungenen Oberfläche liegen.

Die visuelle und taktile Wahrnehmung von Oberflächenstrukturen

Die Wahrnehmung der taktilen Oberflächenstruktur eines Gegenstandes korrespondiert mit dem Verhältnis seiner stofflichen Eigenschaften zu unserem Leib. Alle seine sinnlich erfassbaren Qualitäten entsprechen nicht absoluten Werten, sondern relativen Größen, die in Abhängigkeit zur Sensitivität und Stofflichkeit unseres Leibes stehen. Durch die Ertastung ergeben sich Vorstellungen über seine physische Existenz, die sich durch die wahrgenommenen stofflichen Eigenschaften verdichten. So erkennen wir unter anderem das Gewicht, die Dicke, die Rauhigkeit, die Elastizität, die Wärme oder die Härte des Gegenstandes, indem wir unser Tastorgan gegenüber dem Objekt mit einer spezifischen, an seine ertasteten Eigenschaften angepassten Druckkraft, bewegen. Die Kombination vieler Eigenschaften in unterschiedlich ausgeprägter Intensität ergibt ein Gesamtbild, wie es das der weichen, warmen und zugleich trocken geschmeidigen Glätte des Seidenstoffes exemplarisch veranschaulicht.

Die visuelle Oberflächenstruktur zeigt sich in den Modulationen der Oberflächenfarbe und der Körperfarbe, auf die ich später noch komme. So erzeugt der visuelle Farbeindruck eines sanft fallenden und gefalteten Seidenstoffes ein anschaulicheres Bild der haptischen Qualitäten und damit auch des stofflichen Wesens, als es eine reine Oberflächenmodulation erreichen würde. Die Quantität der möglichen Oberflächenmodulationen einer Reihe von Oberflächen, welche von glatt nach rauh verläuft, bleibt nach Ansicht von Katz nicht hinter den Graustufenmodulationen einer Reihe von Schwarz nach Weiß zurück. Jedoch fehlt es uns sowohl im haptischen, wie im optischen Bereich an geeigneten Begrifflichkeiten für den Ausdruck der Vielzahl von verschiedenen Oberflächenstrukturen.

Visuelle Oberflächen erreichen ihre taktile Wirkung nicht nur durch die farbige Pigmentierung, sondern auch durch die Modulation des Untergrundes, weshalb wir ihre Oberflächenstrukturen oft als hautartige Texturen erleben. Physiologen sehen in der Leistung des visuellen Sinns, Oberflächenstrukturen zu erkennen, eine der Formerkennung gleichwertige Leistung. Der Farbraum ist gleichermaßen aus den Begrenzungen von farbigen Flecken und deren Flächenfarbe- und struktur aufgebaut. Aus den Konturen lassen sich überwiegend Informationen über die Raumform und damit die Gegenstandsbedeutung ermitteln, wogegen uns die Oberflächenstrukturen wesentliche Informationen über die Stofflichkeit der Erscheinungen aufzeigen.

Binns zeigte 1938 in einem Versuch, bei dem die Testpersonen den Grad der Weichheit von Faserbündeln beurteilen sollten, dass die Ergebnisse der haptischen und visuellen Wahrnehmung von Stoffen vergleichbar gut sein können. Texturen werden nicht als einzelne Formen wahrgenommen, sondern als Oberflächenstrukturen und damit als Materialqualitäten. Unsere Augen finden keine Möglichkeit zur Fixation einer prägnanten Einzelform im Farbfeld. Wir haben Schwierigkeiten einen Punkt im Farbfeld zu fixieren, denn beinahe unermüdlich streift unser Blick über das Material, so dass sich der Eindruck verschiedener Oberflächenqualitäten einstellt, welche eine spezifische Rauhigkeit, Weichheit, Körnigkeit oder Faserigkeit besitzen. (Katz, David „Der Aufbau der Tastwelt“, Verlag J. A. Barth Leipzig 1925)

Der Einfluss der Temperatur auf die Wahrnehmung von Materialien

Zu den Informationen aus der Druckfestigkeit, der Rauhigkeit und der Vibration nehmen wir bei der Berührung eines Stoffes auch immer dessen Temperatur in Relation zu unserer Körpertemperatur wahr. Dabei kommt es zu einem Temperaturfluss, entweder vom Material auf die Haut oder umgekehrt, was von uns als Wärme- oder Kälte empfunden wird. Jedes uns bekannte Material ist mit einer spezifischen Gedächtnistemperatur verbunden, welche wir im Wahrnehmungsprozess auch auf andere Materialien übertragen, so wir auf Grund ihrer sonstigen Eigenschaften Verbindungen in der Art der Stofflichkeit annehmen können. Metalle, Gläser, Steine erscheinen uns kühl, Hölzer, Stoffe oder Schäume dagegen warm. Erkennen wir ein Material als Holz, so ist auch die Temperaturwartung auf die Tastung von Wärme eingestellt, selbst wenn wir diese Art noch nie vorher berührt haben. Werden Versuchspersonen die Augen verbunden, so können sie tastend die ihnen bekannten Materialien an ihren Eigenschaften sicher erkennen. Dabei sind sowohl die Temperaturempfindungen wie die Druckempfindungen neben der Tastung der Oberflächenstrukturen für die Verifizierung des Tasteindrucks entscheidend. Materialien, deren spezifische Temperatur künstlich verändert wurde, konnten nicht mehr eindeutig identifiziert werden. Auch ist es interessant, dass erhitzte metallische Oberflächen als wärmer empfunden werden als hölzerne Oberflächen mit der gleichen gemessenen Temperatur.

Farbe wird uns in einem Spektrum sichtbar, welches vom kurzwelligen kalten blauvioletten Licht bis zum langwelligen warmen orangeroten Licht reicht. Versuche über die gefühlte Temperatur haben die Temperaturwirkung der Farbe gezeigt, so nahmen Personen in einem mit blauer Farbe gestrichenen Raum gegenüber einem mit roter Farbe gestrichenen eine durch Heizung erzeugte gleiche Raumtemperatur erst bei einer Differenz von vier Grad wahr. Ändern wir die Farbtemperatur eines Materials, so verändert sich auch der Temperatureindruck oder unsere Möglichkeit der Zuordnung zu einer Gedächtnisfarbe, was die Materialerkennung beeinträchtigt.

Der Einfluss der Vorstellung in der haptischen und visuellen Wahrnehmung

Farben bleiben oft auch über das Wahrnehmungserlebnis hinaus mit der Wahrnehmungssituation verbunden, sie sind in unserer Erinnerung als Gedächtnisfarben vorhanden, wie wir auch über Tastvorstellungen als Gedächtnistastungen verfügen. Gedächtnistastungen und –farben können so stark wirksam sein, dass sie unsere Wahrnehmungsleistungen temporär oder sogar dauerhaft verändern. Zum Beispiel verändert sich die haptische Wirkung der Farbe eines Steines, wenn wir erfahren, dass seine Erscheinung auf bemaltem Papier begründet ist, wir assoziieren die Tastvorstellung von Papier und verlieren unwiederbringlich die Vorstellung der materialspezifischen Objektqualitäten, wie Kühle, Härte und Schwere.

Die Reproduktion einer Gedächtnistastung impliziert meist die tastende Hand, zumindest aber einen tastfähigen Teil unseres Leibes. Sollen wir eine Materialqualität aus dem Gedächtnis beschreiben, so wird diese in der vorgestellten Tastberührung besonders deutlich. Die Reproduktion eines Farbeindrucks führt, wie es auch Hering bereits deutlich machte, zur Erinnerung an den Farbeindruck einer Situation, welche wir im Gedächtnis erneut betrachten und erleben. (Hering, Ewald „Zur Lehre vom Lichtsinne “, Original 1878, Reprint: VDM, Müller, Saarbrücken 2007)

Stereognosis und Bewegung in der visuellen und haptischen Wahrnehmung

Der haptische Sinn erzeugt in der Bewegung unseres Leibes Wahrnehmungen, bei denen die kinematische Form des Reizes in die statische Wirkung eines Objektes transformiert wird. So erzeugen wir in der Tastbewegung unserer Hand spezifische Reizverläufe, welche nicht zur Vorstellung eines bewegten Objektes führen, sondern uns seine Existenz in Zeit, Stoff und Raum erschließen. Auch die Farbwahrnehmung vollzieht sich erst durch die Abtastbewegung der Fovea Centralis, dem Netzhautbereich unseres schärfsten Sehens, obgleich die ständige Bewegung der Augen kein Teilinhalt der Farberscheinung wird. Grundsätzlich ist auch eine statische Tast- und Farbwahrnehmung möglich, jedoch werden hier merklich weniger Objekteigenschaften wahrgenommen als in der kinematischen. Die sukzessive Erfassung der Objekteigenschaften führt zu einem simultanen Raumeindruck, bei dem die Zeit als Ausdehnung des Gegenstandes im Raum erfahren wird, sei es in der Fläche oder in der Tiefe. Da die Wahrnehmung einer Fläche immer den Raum einschließt, welche diese zum Betrachter ausrichtet, beinhaltet jedes in der Bewegung vollzogene Tast- und Farberlebnis unser Bewusstsein des gemeinsamen Seins im und zum Raum.

Anders vollzieht sich das Erlebnis von bewegten Objekten, bei denen sich die Farb- und Tastmedien dem Blick oder der Hand entziehen, sich vor ihm wandeln und ihm entgegenstreben. Dabei ist uns in den visuellen Erlebnissen unsere haptische Erfahrung stets gegenwärtig. Biegt sich ein Baum im Wind, so verspüren wir das Erlebnis von Elastizität, der Spannung im Stamm auch in der visuellen Betrachtung, die Farbverläufe künden uns beim Biegen eines Astes vom bevorstehenden Bruch, fast jede Form von Druck- und Zugbelastung, welche Auswirkungen auf die Gestalt des Objektes hat, das heißt eine Veränderung seiner Raum- und Oberflächenfarbe bewirkt, wird uns als Erlebnis von Spannungen erfahrbar. Spannungserlebnisse lassen sich auf die Erfahrung der Schwerkraft durch unser haptisches System zurückführen. So registriert unser Muskelsystem in Zusammenwirkung mit dem Knochen- und Gelenksystem wie mit dem Hautsystem jede Deformation des Leibes und jede innere Spannung in Richtung und Stärke.

Seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert mehren sich die Versuche der Erforschung des Einflusses der Bewegung des Betrachters auf die Raumwahrnehmung. Cornelius und Wulff stellten daraus abgeleitete Ansichtforderungen für die Architektur und die Plastik auf. Die Raumform von Objekten erschließt sich, indem wir um sie herumgehen und sie nicht perspektivisch oder gar frontal betrachten, sondern sie in einem ständigen Wechsel kinematischer Perspektivverläufe erfassen. Auch hier ist die Stereognosis aus dem Bereich der haptischen Raumerfassung hilfreich für die Betrachtung der Raumwirkung der Farbe durch die Bewegung. Die Stereognosis beschreibt die Fähigkeit unserer Tastorgane, Raumformen zu erkennen, ihre Lage und ihr Gewicht zu bestimmen. Umschließen unsere Finger ein Objekt, so wird es in seiner Raumgestalt erfahrbar. Wir nehmen nicht die Stellung unserer Finger wahr oder die Reizungen an den Berührungsstellen, sondern die Lage des Objektes zum Raum, sein Gewicht und seine körperhafte Raumgestalt. Ebenso haben wir in der Bewegung um ein Objekt das visuelle Erlebnis seiner Raumform, wir begreifen seine Orientierung und haben ein Gewichtserlebnis, auch wenn diese Sehleistungen nur eine mittelbare Form der Erkenntnis sein können. Wie wir im Farbraum den Farbkörper vom Farbgrund unterscheiden, so können wir im Tastraum vom Tastkörper und vom Tastgrund sprechen.

Die Bedeutung der Vibrationswahrnehmung für die Erkennung der Stofflichkeit

Durch die Augenbewegungen tasten wir das Objekt ab, wobei sich ständig eine Adaption des Sehorgans an die Lichtverhältnisse einstellt. In den Bewegungsphasen haben wir einen ungegliederten Farbeindruck, welcher sich in den Ruhephasen zu einem Gestalteindruck der Kanten und Flächenstrukturen verdichtet. Beim Tastvorgang nehmen wir während der Bewegung unserer Tastorgane wahr, während wir in der Ruhephase nur noch einen stark reduzierten Tasteindruck empfangen. Dieser Umstand lässt sich aus der Bedeutung der Vibrationswahrnehmung erkennen, welche erst in der Bewegung entsteht und die entscheidend an der Tastwahrnehmung beteiligt ist. Neben den druckempfindlichen Rezeptoren sind die für Vibration empfindlichen rezeptiven Felder entscheidend an der Tastwahrnehmung beteiligt, wie die Versuche von Katz belegen. Durch ein vermittelndes Medium hindurch lassen sich die Vibrationen spüren, die von der Rauhigkeit des Tastobjekts hervorgerufen werden. Von meiner praktischen Tätigkeit als Steinmetz und Steinbildhauer stammen noch die eigenen Erlebnisse des Zusammenwirkens von Hand und Auge. So kommunizieren sich die Materialeigenschaften des Steines in rhythmischen Abstand über die Vibrationen des Werkzeugs in die Hand. Schichtungen, Unregelmäßigkeiten oder Risse in der Tiefe des Steins werden so spürbar, lange bevor diese dem Auge sichtbar werden. Die Rauhigkeit der Steinoberfläche ist über die Spitze des Werkzeugs jederzeit so klar präsent, dass der Blick bereits vorausschauend den Verlauf der Handlung bestimmen kann, da wiederum nur er die Modulationen der Tastoberflächefläche als Ganzes präsent macht. Es Bedarf der Erwähnung, dass die haptische Wahrnehmung der Vibrationen der begleitenden akustischen entspricht, wobei ich hier nicht näher darauf eingehen kann. Extrem wird das Erlebnis der Vibration des Farbeindrucks bei der Betrachtung von interferierenden Strukturen, die im akustischen Bereich als Schwebungen bezeichnet werden. Auch in unserem Leib gibt es vergleichbare Erlebnisse von Resonanzen, vor allem im Brustraum, welche auf spezifischen akustischen Schwingungen beruhen.

Die Transponierbarkeit von Farb- und Tasteindrücken

Die Unterschiede von Tastflächen werden durch die Einführung von Zwischenmedien, wie dünnen Handschuhen oder Tüchern, transponiert, was bedeutet sie ändern sich in ihrer Qualität, behalten jedoch ihre Beziehungen untereinander bei, so dass sich ein nahezu identisches Tastbild ergibt. Wie die Transponierung von harmonischer Musik die Struktur innerhalb der Tonarten erhält, so kann man auch die Transponierung der Tastqualitäten durch Zwischenmedien als Tastkonstanz verstehen. Auch hier gibt es ein vergleichbares Verhalten im Bereich der visuellen Wahrnehmung, so verschiebt sich der Eindruck der Farbwahrnehmung als Ganzes wenn die Sonne etwa durch eine Wolke verdeckt wird, ohne das nun alle Gegenstände das Verhältnis ihrer Farbigkeit zueinander ändern. Wir können hier auch von einer Umstimmung oder einer Farbenkonstanz sprechen. Die Transponierbarkeit endet, wenn wir die Einheit des Raumeindrucks aufgeben, indem wir farbige Flächen im Innenraum mit farbigen Flächen im Außenraum vergleichen oder eine Form mit einer Hand durch einen Handschuh betasten und mit der anderen Hand den Hautkontakt herstellen.

Schlusswort

Farbe enthält nur mittelbare Informationen über die Stofflichkeit, ist aber weit darüber hinaus auch das Medium für die Kommunikation von praktischen und ästhetischen Bedeutungen geworden, welche sich in Bild und Schrift veranschaulichen. Sie erlaubt die Ausdehnung der haptischen Erfahrung unseres Leibes und unserer Umgebung in den gesamten sichtbaren Raum. Der bipolare Charakter der Tastwahrnehmung macht diese zur einzigen Form der unmittelbaren Erkenntnis und Erfahrung von Welt. Deshalb kann die Frage, wie wir ohne die Fähigkeit zur haptische Wahrnehmungen Sehen würden, nur zu einer Meditation führen, zu einem Sehen ohne den Leib, zur Schöpfung einer Vorstellung vom reinen Geist wie die von Descartes „Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich“. Herder holte dagegen die Grundlage aller Erkenntnis zurück in die Existenz mit seinem Ruf: „Ich fühle! Ich bin!“. (Herder, J.G. „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“, in ders. Werke in 10 Bänden“ hgg. J. Brummack, FFM 1998 B.4)

George Berkeley bringt die Natur unserer Erkenntnismöglichkeiten auf den Punkt, wenn er sagt: „Was tastbar ist, existiert“. Was aber ist die Natur der Gefühle, welche, wie es Hermann Schmitz ausdrückt, sich oft in richtungsräumlichen Atmosphären leiblich spüren lassen? Der Leibraum des Menschen weist dabei über die grenzen seiner Haut hinaus. Blinde, welche nach der Operation am Star ihr Augenlicht erlangt haben, sind oft erst unsicher und verwirrt über die farbigen Erscheinungen, fallen oft in eine postoperative Depression, verdunkeln ihre Wohnung, um sich in der gewohnten Art zu orientieren, was an das Höhlengleichnis von Platon erinnert. (Schmitz, Hermann „Begriffene Erfahrung“, Ingo Koch Verlag Rostock 2002) Das tastende Sehen in die Ferne durch die Farben des Lichtes birgt eine Ausdehnung unserer Erkenntnisfähigkeit über die Grenzen unseres Leibes hinaus und verleiht den visuellen Erscheinungen ihre räumliche, zeitliche und stoffliche Bedeutung für unsere Existenz.

Weiterführende Literatur „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“