„Sehen und gesehen werden, ist existieren.“ Der Forschungsstand in den Neurowissenschaften belegt, dass die Welt, welche wir täglich sehen, eine Konstruktion unseres Bewusstseins ist. Es gibt uns und die Umwelt nur insoweit, wie wir davon bewusst und unbewusst etwas bemerken. Dazu besitzen wir die Gewissheit, dass außerhalb unseres Bewusstseins noch etwas existiert. Für unsere Vorstellungsbildung brauchen wir eine permanente Quelle von Ereignissen, deren Erklärung die Existenz einer Welt außerhalb unseres Bewusstseins bedingt. Wenn nach der Geburt nichts passiert oder wir nichts aktiv tun, dann bleiben wir effektiv blind, da sich in unserem Gedächtnis keine anschauliche Vorstellung von der eigenen Lebenswirklichkeit bilden kann. Wir sehen eine phänomenale Welt aus Farbe und Licht, deren Strukturen nicht auf andere Inhalte verweisen, da wir keine assoziativen Verknüpfungen im Gehirn bilden konnten.

Das tritt nirgendwo so deutlich zu Tage, wie bei den Menschen, die nach einer Gehirnschädigung erneut in ihre Lebenswelt blicken. Sie bemerken oft erst an den Konsequenzen ihrer Handlungen, dass sich hierin etwas Grundlegendes verändert hat. In ihrer Welt fehlen plötzlich Menschen, Orte oder Gegenstände, als hätten sie nie zuvor darin existiert. Werden die assoziativen Verbindungen unser Nervennetze im Gehirn zerstört, verlieren wir Teilbereiche unserer Wissensstruktur. Dinge können vollständig verschwinden, wie auch ihre Gebrauchseigenschaften, Verhaltenzustände oder Handlungspotentiale. Damit verändert sich auch unsere räumlich-visuelle Kompetenz, wodurch uns die funktionalen Strukturen der Verarbeitungsprozesse unseres Gehirns erkennbar werden. Das Assoziationsnetzwerk bestimmt unsere Wirklichkeit.

In dem Maß, wie wir den Zugriff auf den „Wortschatz“ oder „Bildschatz“ unseres Gedächtnisses verlieren, kommt es zu Verständnis- und Verständigungsschwierigkeiten. Hieraus wird erkennbar, dass die Gedächtnisreferenz unseres Anschauungsraums ein Sprachsystem bildet, dessen Bedeutungs- und Handlungsstrukturen aus dem Kommunikationsprozess mit der Umwelt resultieren.

Publikation „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“