Das erste Erlebnis von Farbe und Licht
„Farbe ist anders“, stellt ein blindgeborener Mensch nach der erfolgreichen Wiederherstellung seiner Sehkraft durch eine Augenoperation fest. Nach dem ersten Öffnen seiner nun erstmals reizempfindlichen Augen erfährt er eine völlig neuartige Empfindung der Art und Weise seiner Existenz in der Umwelt, in der sich neben den ihm bereits bekannten Sinnesmedien (lat. medium – Vermittler) plötzlich eine vollständig neue Quelle von bedeutsamen Erfahrungen eröffnet. Die Intensität der empfundenen Strahlung hingegen erfährt er als Licht, das über seine nun funktionsfähigen Augen in ihn einströmt, seinen Körper wie Wärme umfängt und ihn durch eine Vielzahl von farbigen Tönen in Schwingungen versetzt.
Farbe und Licht als Phänomen
Während die empfundene Farb- und Lichtstruktur für den ehemals Blinden anfangs noch einen rein phänomenalen Charakter besitzt und ausschließlich auf sich selbst verweist, entwickelt sich der Zeichencharakter erst aus dem Prozess der multisensuellen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Der Begriff des Phänomens (lat. phaenomenon – Erscheinung, Lufterscheinung, griech. phainein – sichtbar machen, sehen lassen) kennzeichnet den Vorgang des „Zum-Vorschein-Bringens“, des „Sichtbar-Werdens“, des „Sich-Zeigens“ von Bedeutungen über die visuelle Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. Erst dann fangen Farben und Helligkeiten für den Betrachter an, auf Gerüche, Töne, Materialien und Bewegungen zu verweisen, woraus sich in der Folge die Gedächtnisrepräsentation des Anschauungsraum entwickelt, die sich daher analog zu ihrer Funktion als Referenzsystem für den Zeichengebrauch sowie die Zeichenbedeutung auch als Sprach- und Erkenntnissystem bezeichnen lässt.
Der Verlust von Farbe und Licht
Der Erblindete dagegen geht in die Dunkelheit und spürt den Verlust der Sinnesmedien Farbe und Licht, über die er mit der Umwelt in einen Verständigungsprozess treten konnte, wogegen sich die Erinnerung an die Farb- und Lichtstruktur seines Anschauungsraums nach wie vor in seinem Gedächtnis repräsentiert. Farbe und Licht sind daher keine Akzidenzen der Umwelt, sondern Sinnesempfindungen des Menschen, der die damit erfahrenen inhaltlichen Bedeutungen aus dem multisensuellen Erlebnis der natürlichen und soziokulturellen Umwelt im Gedächtnis speichern und ebenso wieder abrufen kann. Der Erblindete M. Hull beschreibt diese tiefgreifende Veränderung seiner Existenz wie folgt: „Wenn man immer tiefer in das Blindsein hineingeht, dann werden die Dinge, die man einst für selbstverständlich hielt und die man, als sie verschwanden, zunächst betrauerte und für die man später die unterschiedlichsten Kompensationen zu finden suchte, am Ende bedeutungslos. Irgendwie scheint es gar nicht mehr wichtig, wie Menschen aussehen oder wie Städte aussehen. Man beginnt mit anderen Interessen, anderen Werten zu leben. Man beginnt, in einer anderen Welt zu leben.“
Farbe und Licht als Informationsmedien
Darüber hinaus erfüllen Farbe und Licht wie alle Sinnesempfindungen eine mediale Funktion, da sie den Menschen über die Umweltbedingungen informieren. Wie er über die Wärme- und Kälteempfindungen seine Körpertemperatur an die Umweltbedingungen anpassen kann, vermag er dies ebenso durch die Anpassung der Spannungsverhältnisse in seinem Muskel- und Gelenksystem an die Schwerkraftbedingungen, wohingegen ihm die Sinnesempfindungen von Farbe und Licht die Anpassung seiner gesamten Existenz an die Bedingungen seiner Umwelt erlauben. Dabei geht die Anpassung des Menschen an die räumlich-visuellen Bedingungen der Umwelt weiter als die aller anderen Lebewesen, welche die Umweltstrahlung ebenfalls für ihre Orientierung- und Handlungs- sowie zum Teil auch für ihre artspezifischen Kommunikationsprozesse nutzen. Die gesamte räumlich-visuelle Kultur des Menschen zeigt das Ergebnis dieses generationsübergreifenden und globalen Anpassungsprozesses, ohne den es Städte, Infrastrukturen, Gesellschaften, Technik, Wissenschaft und Gestaltung nicht in der gegenwärtigen Form geben würde. Farbe und Licht fungieren daher als Medien für den Erkenntnis- und Verständigungs- sowie den Problemlösungs- und Vermittlungsprozess, dessen Botschaften sich in der soziokulturellen Umwelt des Menschen sowie im Stand der Kompetenzentwicklung jedes einzelnen Individuums zeigen.
Farbe und Licht als Kommunikationsmedien
Die Sinnesempfindungen von Farbe und Licht werden von der menschlichen, wie auch von vielen anderen Spezies, nicht nur passiv erlebt, sondern aktiv für den räumlich-visuellen Verständigungsprozess genutzt. Dass die farbliche Anpassung an die Umgebungsbedingungen eines artspezifischen Lebensraums oder die Übernahme einer abschreckenden Tarnung eine Spezies vor Feinden schützen kann, ist seit langem bekannt, doch zeigen neue wissenschaftliche Untersuchungen, dass auch Tiere die Medien Farbe und Licht für die Verhaltenssteuerung und den Austausch von Informationen gebrauchen. Besonders auffällig für den menschlichen Beobachter zeigt sich der Verständigungsprozess beim Chamäleon, das seine Körperfarbe an die Wechsel- der Farb- und Lichtstruktur seiner Umgebung perfekt anpassen kann. Der höchste Grad an Veränderung lässt sich jedoch nicht bei der Anpassung der Körperfarbe an den Hintergrund feststellen, sondern bei der Kommunikation mit den Artgenossen. Ein Chamäleon ist in der Lage, durch den Wechsel seiner Körperfarbe differenzierte Botschaften an seine Artgenossen zu senden, um hierdurch seine Handlungsintentionen zu kommunizieren. Diese reichen von der Kampfbereitschaft, über die Unterwerfung bis hin zum Interesse an der Paarung. Darüber hinaus verkünden die Farbwechsel nicht nur seine Verhaltenszustände und Handlungsintentionen, sondern sie zeigen auch seine Antworten auf bereits empfangene Botschaften. So lässt sich zum Beispiel bei einem Chamäleon an der Hautfarbe feststellen, ob eine Aufforderung zur Paarung erfolgreich war oder auf Ablehnung gestoßen ist. Damit der Austausch von Botschaften nicht die Aufmerksamkeit von Feinden erregt, vollzieht sich dieser in so kurzen Intervallen, dass er für andere Spezies oft gar nicht sichtbar wird, weshalb diese Fähigkeit vom Menschen auch erst kürzlich entdeckt wurde. (Devi Stuart-Fox und Adnan Moussalli) An diesem Beispiel wird zugleich auch die Verknüpfung zwischen dem empfundenen Körperzustand und dem Erleben und Verhalten des Tieres deutlich, welche beim Menschen nicht grundsätzlich anders funktioniert, sondern lediglich komplexere Formen angenommen hat. Auch der Mensch teilt seiner Umwelt noch über den Farbwechsel der Haut unmittelbar seine emotionalen Verhaltenzustände und Handlungsintentionen mit, obgleich diese von den meisten Kommunikationspartnern meist nur unbewusst wahrgenommen werden. Die Rötung seines Gesichtes verweist je nach dem Kontext der Situation auf spezifische Erregungszustände, die seinen Mitmenschen Gefühle, wie Scham, Wut, Begehren, Kampfbereitschaft, Interesse oder Ablehnung signalisieren können. Die unbewusst vermittelte Botschaft eines emotional bedingten Körperzustandes kann nicht einfach unterdrückt oder manipuliert werden, weshalb dieser auch eine große Bedeutung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit einer verbal getroffenen Aussage besitzt.
Das multisensuelle Erlebnis von Farbe und Licht
Die gewohnte Farbe aller bedeutsamen Entitäten seiner Umgebung repräsentiert sich mit allen anderen Inhalten aus der multisensuellen Auseinandersetzung mit der Umwelt in der Farb- und Lichtstruktur des Anschauungsraums, was die Erwartungshaltung eines Menschen so stark beeinflusst, dass er diese sogar noch sieht, wenn sie faktisch nicht mehr vorhanden sind. In einem Experiment wurden Versuchspersonen dazu aufgefordert, Computerdarstellungen mit Abbildungen von ihnen bekannten Früchten, wie Bananen oder Salat über eine Regelung insoweit zu entfärben, bis nur noch Graustufenverläufe zu sehen waren. Alle Ergebnisse wiesen jedoch Verschiebungen in den komplementären Farbbereich auf, weshalb die Bananen eine bläuliche Tönung zeigten und der Salat eine rötliche. Die Darstellung der Früchte in einem tatsächlichen Graustufenbereich wirkte dagegen auf die Versuchspersonen noch farbig, was darauf verweist, dass die aus dem Gebrauch gewohnten Farben vom Gehirn erzeugt werden, da die Probanden geometrische Objekte problemlos entfärben konnten. (Hansen T., Gegenfurtner, K.)
Gedächtnisfarben oder Farberwartungen
Man spricht im Bereich der Neurowissenschaften auch von „Gedächtnisfarben“, was gleichermaßen für die anderen formalen Eigenschaften der Farb- und Lichtstruktur, wie die Helligkeiten, Formen und Bewegungen gilt. Die „Gedächtnisfarben“ oder Farberwartungen bilden wiederum die Grundlage für die „Farbkonstanz“. Das Gehirn vergleicht hierbei die proportionalen Veränderungen der Farbigkeit von bekannten Objekten mit den Lichtbedingungen der Umgebung und korrigiert die „tatsächlich“ vorhandenen Farben entsprechend der Erwartungshaltung. Der Mensch kann auf diese Weise unterscheiden, ob die Veränderung der Farbigkeit vom Gegenstand selbst oder vom Umgebungslicht ausgeht. Die semantische Interpretation der Farb- und Lichtstruktur des Anschauungsraums ist auf den bedeutsamen Inhalt ausgerichtet, weshalb in der Regel der Einfluss des Umgebungslichtes auf die Umgebungssituation ausgeblendet wird, während die von den Objekten ausgehenden Veränderungen, wie zum Beispiel kleine Wechsel der Gesichtsfarbe eines Gesprächspartners bemerkt werden.