Mit der Entwicklung der medizinischen Voraussetzungen gab es vor etwa 100 Jahren zum ersten Mal die Gelegenheit, eine aussagefähige Anzahl von blindgeborenen Menschen beim Erwerb der Sehfähigkeit zu beobachten. Während alle Patienten bereits unmittelbar nach der Operation die völlig neuartigen Sinnesempfindungen als Farbe und Licht beschreiben konnten, sahen sie lediglich ein diffuses Reizfeld, das sie oftmals direkt in ihren erstmalig funktionsfähigen Augen lokalisierten. Für die Interpretation fehlte ihnen die Gedächtnisreferenz des Anschauungsraums, weshalb es ihnen unmöglich war, sich die Bedeutungs- und Handlungsstruktur der Farb- und Lichtzeichen zu erschließen. Sie wussten nicht, wozu sie ihre Augen gebrauchen konnten. Die Bildvorlagen, mit denen ihre Sehfähigkeit getestet wurde, erschienen ihnen daher vollständig bedeutungslos.
Die Resignation der behandelnden Ärzte über die Interesselosigkeit und Verwirrung ihrer Patienten lässt sich auf die Unkenntnis der Gehirnfunktionen zurückführen. Heute jedoch lässt es sich dagegen nicht mehr rechtfertigen, wenn die Bildung der Sehfähigkeit, des anschaulichen Vorstellungsvermögens sowie der Darstellungsfertigkeiten von Kindern weiterhin maßgeblich über vorgefertigte Bildvorlagen erfolgt. Es reicht nicht aus, wenn die Bilder in filmischen Sequenzen gezeigt oder sprachlich kompetent erklärt werden. In dieser Hinsicht verhält es sich wie mit Büchern, deren Schriftzeichen uns nur insoweit etwas vermitteln, wie wir diese auf unsere gelebte Erfahrung zurückführen können.
Andererseits sind Bilder und Filme für die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, die Intelligenzentwicklung und die Partizipation an modernen Gesellschaften ebenso unverzichtbar, wie Bücher. Jedoch müssen wir zuerst das Sehen wie eine Sprachfähigkeit erlernen, bevor wir uns hierüber das Informationspotential der natürlichen und soziokulturellen Umwelt erschließen können. Wir brauchen eine permanente Resonanz auf unsere sprachlichen Äußerungen, ganz gleich ob diese anschaulich oder verbal erfolgen, damit sich der Lernprozess entwickeln kann.
Niemand kann uns das so klar verdeutlichen, wie die Blindgeborenen, die das Sehen nach der Augenoperation erst noch erlernen müssen. Im Gegensatz zu uns bemerken sie jedoch permanent, wie sehr sie dabei auf alle ihre Sinne und die eigenständige Erfahrungsbildung angewiesen sind.