Alle Wahrnehmungen und Vorstellungen unserer Existenz in der Umwelt sind räumlich und zeitlich strukturiert

Das entspricht der Natur unserer Sinneserfahrungen, die das Gehirn in einem Gedächtnismodell der äußeren Welt speichert. Die Ordnung unserer Erfahrungen im Gedächtnis folgt dem Prinzip größtmöglichen Handlungserfolgs. Es sind die erkannten Irrtümer, Fehler und Misserfolge, durch die wir lernen, da das Gehirn die Raumvorstellungen unwillkürlich korrigiert und erweitert. Werden Gedächtnisareale durch Alter, Krankheiten oder Unfälle beeinträchtigt, verändert sich unser Vorstellungsraum auf die gleiche Weise wie der Wahrnehmungsraum. Andersherum können wir unseren Vorstellungsraum durch die sinnliche und kognitive Auseinandersetzung mit dem Wahrnehmungsraum gezielt entwickeln. Jede Form der Umweltgestaltung hat daher direkte Konsequenzen für die Strukturen unseres Gehirns. Der Kulturraum vermittelt uns die Gebrauchsanweisung seiner Benutzung. Wir nehmen wahr, wohin wir uns orientieren müssen, wie wir Dinge benutzen oder mit was wir interagieren können. Ästhetische Begriffe wie Schönheit besitzen eine entwicklungsdynamische Relevanz, da sie nicht allein unserem Wohlgefallen dienen, sondern Gradmesser kultureller Leistungen und Bildung sind. Der Begriff „Kulturelle Evolution“ ist keine Metapher, sondern das Kennzeichen unserer Spezies, die sich nicht mehr nur ihrem Lebensraum perfekt anpasst, sondern diesen nach ihren Bedürfnissen gestaltet und sich hierdurch selbst fortentwickelt. Die Raumwahrnehmung initiiert und fördert einen generationsübergreifenden Lernprozess, der stetiger Erneuerung bedarf und daher niemals abgeschlossen sein kann. Junge Menschen nehmen war, wie Gesellschaft funktioniert und wo sie versagt. Am Gebrauch des Raums zeigt sich, was uns wichtig und nützlich ist oder seinen Zweck verloren hat, was es zu bewahren oder zu erneuern gilt.

 

Die Erforschung unserer Raumwahrnehmung ist die Leitwissenschaft der Umweltgestaltung, von der Stadtplanung über die Architektur bis zur Innenarchitektur und Szenografie

Verlassen wir uns bei der Beurteilung der Wahrnehmungsqualitäten von Räumen ausschließlich auf das eigene Bauchgefühl, vernachlässigen wir die Perspektiven der meisten anderen Menschen. Empathie ist von Vorteil, doch längst keine ausreichende Grundlage für die Beurteilung der Wahrnehmungsqualität von Lebensräumen. Die Raumwahrnehmung verändert sich im Verlauf eines Lebens und ist darüberhinaus abhängig von zahlreichen Umweltfaktoren. Unsere Ansprüche an die Gestaltung von Raum verändern sich mit der körperlichen und geistigen Reife, dem Einfluss von Kultur und Bildung oder dem Gesundheitszustand. Menschen brauchen individuell gestaltete Räume, da wir verschieden sind, unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben. Was dem Einen zu klein ist, kann dem Anderen zu groß sein. Ebenso verhält es sich mit unseren Bedürfnissen nach Öffentlichkeit und Privatheit, Gemütlichkeit und Askese, Ruhe und Aktivität, um nur einige Parameter der Raumwahrnehmung zu nennen, die unmittelbare Konsequenzen auf die Raumgestaltung haben. Ein Raum ist gut gestaltet, wenn das Angebot an Handlungsmöglichkeiten vom Menschen positiv wahrgenommen und vielseitig genutzt wird. Die systematische Auseinandersetzung mit der Raumwahrnehmung anderer Menschen kann Sie sensibler machen für die Herausforderungen der Praxis, kann Ihnen Argumente liefern zur Durchsetzung sinnvoller Ideen und sie zum verantwortungsvollen Experiment mit neuen Strategien der Raumgestaltung ermutigen.

 

Raum ist ein Welterkenntnis- und Weltbeschreibungssystem

Wir nehmen Raum mit allen Sinnen wahr, weshalb es nicht nur von Bedeutung ist, wie ein Raum aussieht, sondern ebenso auch, was er uns sagt, wie er sich anfühlt, wie er klingt, riecht, schmeckt oder unsere Bewegungen steuert. Die Wahrnehmung von Raum vermittelt uns deutlich mehr als basale Sinnesempfindungen. Raum ist kein Container, in dem sich Dinge befinden. Raum wird gebildet durch die Summe der emotionalen und kognitiven Beziehungen, die wir zur Umwelt eingehen.

Licht, dass durch ein Fenster auf einen gut ausgewählten Leseplatz fällt, kann von größerer Bedeutung für die Raumwahrnehmung sein, als die Größe des Zimmers oder die Höhe der Decke. In der Raumwahrnehmung verschmilzt, was außerhalb von uns existiert mit dem, was wir in unserer Vorstellung oder durch unsere Handlungen daraus machen. Wir nehmen bewusst wahr, was wir uns im Augenblick der Begegnung mit der Umwelt vergegenwärtigen. Mehr als 99% der Informationen werden hingegen unbewusst verarbeitet, obwohl sie unser Verhalten und unsere Handlungen entscheidend beeinflussen. Wir können diesen hohen Anteil unbewusster Raumwahrnehmungen zu Tage fördern und nutzbar machen, in dem wir unsere emotionalen und spontanen Verhaltensreaktionen ernst nehmen und gezielt nach den Ursachen unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen suchen. Raum ist ein Sprachsystem, das uns mitteilt, was die durch ihn versammelten Dinge bedeuten, wie wir uns verhalten sollen und was unseren Handlungsspielraum ausmacht.

 

Raum funktioniert wie eine Sprache, was nicht verwunderlich ist, da unsere körperlichen Interaktionen mit der Umwelt die Grundlage jeder Kommunikation darstellen

Die Semantik und Syntax des Raumes zeigt sich am Verlauf der Gehirnströmungen im Wahrnehmungsprozess. Während der sogenannte „Was-Strom“ zum semantischen Gedächtnis führt, aktiviert der „Wie/Wo-Strom“ im prozeduralen Gedächtnis die mit dem Ereignis verknüpften Handlungszusammenhänge und Verhaltenszustände. Unsere Raumwahrnehmung gilt weder abstrakten Gestaltfigurationen oder mathematisch bestimmbaren Geometrien, sondern den emotional wirksamen und kognitiv bedeutsamen Teilen der äußeren Erlebnissituation, die ein sinnvolles Ganzes bilden. Raumwahrnehmung folgt dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit, was sich am Lernprozess von Kindern gut beobachten lässt. Aus dem Gebrauch der Dinge und der Entdeckung unserer Interaktionsmöglichkeiten entwickeln sich Handlungsroutinen, weshalb wir kaum noch bemerken, dass es sich bei der Raumwahrnehmung um einen Aneignungsprozess handelt. Ein kurzer Blick reicht meist aus, um uns zu orientieren, das Handlungspotenzial zu erkennen und ein Urteil zu bilden. Kinder erleben, dass ihnen die Räume ihrer Umgebung zunehmend mitteilen, wie sich die Dinge um sie herum verhalten und wozu sie diese gebrauchen können. Als Erwachsene spüren wir die Erweiterung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten in dieser Weise, sobald wir fremde unbekannte Räume betreten, uns auf neue Erfahrungen einlassen und herausfordernde Aktivitäten ausprobieren. Das ist ein Plädoyer für unkonventionelle Ideen in der Raumgestaltung, wie die Erprobung neuer Farbkonzepte, Beleuchtungssituationen, Materialkombinationen und Möblierungsvorschläge.

 

Funktionsstruktur der menschlichen Raumwahrnehmung:

Verarbeitung der Raumdaten aller Sinne im Gehirn. Die Strukturbildung erfolgt durch Interaktionen zwischen Mensch und Umwelt. Jede Funktion kann in Folge von Gehirnläsionen beeinträchtigt werden oder verloren gehen.

A) Was – Gedächtnisstrom: Multisensuelle Bedeutungsstruktur des Raums (Semantisches Gedächtnis)

1. Farb- und Lichtstruktur des Raums

2. Form- und Materialstruktur des Raums

3. Gleichgewichtsstruktur des Raums

4. Bewegungs- und Zeitstruktur des Raums

5. Geruchs- und Geschmacksstruktur des Raums

6. Ton- und Klangstruktur des Raums

 

B) Wie/Wo-Gedächtnisstrom: Handlungsstruktur des Raums (Prozedurales Gedächtnis)

1. Gestische Struktur – Zu welchem Zweck zeigt sich etwas?

2. Typologische Struktur – Wie zeigt sich etwas?

3. Topologische Struktur – Wo und wann zeigt sich etwas?

4. Perspektivische Struktur – Zu wem und zu was zeigt sich etwas?

 

Die Atmosphäre eines Raums setzt sich aus allen Ebenen der menschlichen Wahrnehmung zusammen

Die meisten Raumdaten, wie Lichtreflexe, Spiegelungen, Transparenzen, Farbvariationen oder Nebengeräusche und Gerüche werden unbewusst verarbeitet. Wenn sie fehlen wirken Räume künstlich und befremdlich wie Animationsgrafiken und – filme, in denen das ambiente Licht und die Modulation der Oberflächenstrukturen fehlt oder wie Sprache und Musik, in denen keine Obertöne mitschwingen. In der Filmproduktion werden Atmosphären daher mit großem Aufwand generiert, angefangen bei der Auswahl von Drehorten und Drehzeiten bis zur Postproduktion des Filmmaterials. Hierbei werden viele Ebenen der Raumwahrnehmung sorgfältig in Szene gesetzt, die im Bereich der Raumgestaltung oft vernachlässigt werden. Wie wirken die Proportionen der Raumsituationen in Bezug auf den handelnden Menschen? Woher kommt das Licht? Welche Farbtemperatur und welches Farbspektrum hat das Licht? Wie breitet sich das Licht im Raum aus? Wie fühlen sich die sichtbaren Oberflächen für den Betrachter an? Wie klingt ein Raum? Wie riecht ein Raum? Wer jetzt der Meinung ist, dass man Gerüche oder Oberflächenqualitäten nicht visuell wahrnehmen kann, der sei auf den Stand der Gehirnforschung verwiesen. Alle Wahrnehmungen sind assoziativ miteinander vernetzt und werden im Augenblick des Erlebens aktiviert. Aus diesem Grund können Farben frisch wirken, Appetit anregen oder Übelkeit verursachen. Raumatmosphären wirken besonders emotional, da sie unseren gesamten Körper auf das äußere Ereignis einstimmen, was sich bis hin zum Einfluss auf die Stoffwechselfunktionen nachweisen lässt. Die Atmosphäre eines Raums bestimmt die Intensität und Qualität unseres Erlebens.

 

weiterführende Literatur:

Axel Buether; Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz. Schriftenreihe Burg Giebichenstein 2010

Axel Buether; Wege zur kreativen Gestaltung. Methoden und Übungen. Seemann Henschel 2013

Axel Buether; Farbe. Visuelle Raumwirkung und Kommunikation. DETAIL Praxis 2014

 

Link Bund Deutscher Innenarchitekten BDIA


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