Axel Buether
Der Wahrnehmungsforscher
Professor Axel Buether ist ausgebildeter Steinmetz und Bildhauer, studierte Architektur und Philosophie, promovierten zum Thema „Semiotik des Anschauungsraums“ und hat heute die Professur für „Didaktik der visuellen Kommunikation“ an der Bergischen Universität Wuppertal inne. Wir sprachen mit Axel Buether über Multisensualität, räumlich-visuelle Kompetenz und warum wir Räume schön finden.
Herr Professor Buether, wie nehmen wir Raum wahr?
Die Raumwahrnehmung erfolgt über verschiede Sinne. Ich benutze hier den Begriff der Multisensualität, welcher auf den inhaltlichen Abgleich aller Sinneswahrnehmungen verweist: Das Gehirn des Menschen konstruiert Welt, indem es verschiedene Sinneseindrücke vergleicht mit dem, was der jeweilige von der Welt bereits erlebt hat. Dies geschieht zu über 99 % unbewusst. Dieses Erfahrungswissen wird im impliziten Gedächtnis gespeichert und ist damit nicht spontan verfügbar, wenn wir es z.B. als Planer am dringendsten benötigen. Die Explikation unseres Erfahrungswissens erfolgt durch Versprachlichung, Verbildlichung oder anderen Formen eines bewussten Handelns.
Architekten, die sich nicht explizit mit den Grundlagen ihrer Wahrnehmung auseinandersetzen, entwerfen die grundlegenden Faktoren für das Erlebnis und die Qualität von Räumen unbewusst oder aus dem Bauch heraus, was ein gewisses Risiko für die spätere Nutzung und Wertigkeit mit sich bringt, welches wir im Bereich der Konstruktion längst überwunden haben. Wollen wir die erlebbare Qualität gebauter Räume nicht allein unserem Bauchgefühl oder den durch Standards festgeschriebenen Konventionen überlassen, müssen wir unseren Weg zu einer neugierig-erforschenden und methodisch-reflektierten Selbst- und Umweltwahrnehmung finden.
Die visuelle Wahrnehmung spielt dabei eine besondere Rolle …
Den weitaus größten Teil aller Umweltinformationen nehmen wir anschaulich wahr, da auch Materialien und Formen, Geruchs- und Geschmackserlebnisse, Gleichgewichtszustände und Bewegungen sowie Verhaltens- und Handlungsintentionen visuell codiert sind. Auch die Syntax der Sprache funktioniert primär über anschauliche Vorstellungsbilder, die im Augenblick des Lesens oder Hörens evoziert werden. Wir bewegen uns beim Denken, Lesen, Sprechen und Handeln stets durch unseren eigenen Gedächtnisraum, der sich im Augenblick der Wahrnehmung mit den äußeren Ereignissen synchronisiert. Nur wenn wir gelernt haben, den Fluss unserer Vorstellungsbilder im Wahrnehmungsprozess zu lenken und die eingehenden Informationen zu systematisieren, können wir das anschauliche Archiv des gebauten Raums der Vergangenheit bis in die Tiefen der Geschichtlichkeit verstehen – und so gezielt neue Räume für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft entwerfen.
Die visuelle Wahrnehmung ist ein Erkenntnis- und Verständigungsprozess. Wir nehmen in einem Blickfeld von etwa 180° in horizontaler und 130° in vertikaler Ausdehnung nicht mehr als einen Radius von etwa 1° in voller räumlicher Auflösung und Farbigkeit wahr. Deshalb lassen wir unsere Augen ständig wie ein Tastwerkzeug wandern und zeichnen damit das Bild unserer Wirklichkeit, welches sich zeitlebens verändert und für jeden Menschen trotz vieler Übereinstimmungen einzigartig ist. Daher bleiben wir mit dem Blick immer dort hängen, wo uns etwas leitet, anspricht, provoziert – oder wo etwas nicht stimmt.
Wann finden wir das von uns Wahrgenommene schön?
Schönheit ist ein Gefühl, das sich im Augenblick der Wahrnehmung oder Vorstellung beim Menschen einstellt. Wo es viele Menschen teilen, gründet sich das Gefühl von Schönheit auf biologische Wurzeln wie Instinkte und Neigungen oder gesellschaftliche Konventionen wie Gebräuche und Moden, die im Hinblick auf Zeit und Kulturraum wechseln. Eine Steigerung des Gefühls der Schönheit bietet der Eindruck von Erhabenheit, den der Anblick von Menschen und Naturereignissen, aber auch von Bauwerken bewirken kann.
Es muss in der Architektur daher nicht alles schön, sehr wohl aber in Bezug auf die Wahrnehmung des Betrachters überlegt und anschaulich verstehbar geplant sein. Brüche, Fehler oder Besonderheiten im räumlichen Kontext können bewusst zum Bestandteil eines in sich stimmigen Konzepts gemacht werden, wenn vom Planer bedacht wird, wie diese Entscheidungen vom Betrachter nachvollzogen werden können. Ich halte es für grob fahrlässig, die visuelle Intelligenz des Menschen zu unterschätzen, der ein intuitives Gespür für die Stimmigkeit von räumlichen Strukturen oder Kompositionen besitzt. Die Fähigkeit zur Explikation oder Versprachlichung dieses spürbaren und zur spontanen Ablehnung motivierenden Unbehagens hingegen ist mit dem Erwerb räumlich-visueller Kompetenzen verknüpft, die nur anwendungsbezogen im Rahmen eines Professionalisierungsprozesses erworben werden können.
In diesem Sinne können wir Menschen hinsichtlich die Ästhetik gebauter Räume durchaus etwas abverlangen – sie zum anschaulichen Lernen und Denken bewegen oder sie überzeugen, sich den Herausforderungen moderner Gesellschaften zu stellen. Ich nenne das „Kunst der anschaulichen Vermittlung“ oder „Didaktik der visuellen Kommunikation“. Planer gestalten das Erlebnis und den Gebrauch des Kulturraums, in dem sie die Lesbarkeit der Ideen gewährleisten, die der Errichtung von Gebäuden, Infrastrukturen und Siedlungsstrukturen zu Grunde liegen.
Wie kann man die Wahrnehmung von Räumen, Raumerlebnisse planen?
Bei Krankenhäusern z.B. wurde es nach Entdeckung der lebensbedrohenden Gefährdungen durch mangelnde Hygiene wichtig, dass sie besonders sauber wirkten, weshalb strahlend weiße Oberflächen lange Zeit eine wichtige Botschaft vermittelten. Heute haben sich diese Ängste reduziert, dafür aber die Bedenken gegenüber hochtechnisierten Behandlungsmethoden und anonymen Verwaltungsprozessen zugenommen. Heute achtet man darauf, das räumliche Erscheinungsbild von Krankenhäusern so zu gestalten, dass die Menschen spontan Vertrauen bilden und sich als Individuen aufgenommen und geborgen fühlen können.
Die Wahrnehmung von Raum sollte nach zwei verschiedenen Prinzipien gestaltet werden: einmal birgt der Anblick eines Raums eine Anweisung zu seinem Gebrauch im Sinne eines narrativen Prinzips: Der Raum erzählt, wie man sich annähert, was man erwarten darf, wo man hineintritt, wie man sich hindurchbewegt. Die Wahrnehmung von Raum hat für den Betrachter immer auch eine poetische Komponente, die sich rein funktionalen Kriterien entzieht, doch nach affektiven Prinzipien wahrnehmbar und gestaltbar ist. Die Qualität des Erlebens lässt sich durch Bildung von emotionalen Kriterien, wie Wohlbefinden, Sicherheit, Inspiration, Neugier oder auch Verunsicherung und Provokation erforschen, beschreiben und gestalten.
Sie unterscheiden in Ihrer Arbeit zwischen semantischer Bedeutungsstruktur und syntaktischer Handlungsstruktur. Was heißt das?
Mit dieser Frage habe ich mich schon während meiner Dissertation befasst – und habe sie damals über die Methode der Negation beantwortet. Der Philosoph Wittgenstein hat zum Beispiel in seiner Schrift „Remarks on Colours“ geschrieben: „Eigentlich müsste man blind sein, um etwas über Farben aussagen zu können.“ So unterscheide ich zwischen einer semantischen Bedeutungsstruktur und syntaktischen Handlungsstruktur des Raumes. Um beim Beispiel des Krankenhauses zu bleiben: die semantische Gestaltungsebene vermittelt hier dem Betrachter den Typus des Gebäudes, also die Zugehörigkeit zu einer Klasse von Einrichtungen, die in funktionalem Bezug zu dem Erkranken und Gesunden der Menschen stehen. Ebenso verhält es sich mit der Typologie der Teile. Darüber hinaus vermittelt uns die syntaktische Gestaltungsebene eines Krankenhauses eine Vielzahl nutzungsspezifischer Handlungsmuster, die die Orientierung und das Verhalten aller Nutzergruppen im Raum steuern. Die räumliche Differenzierung privater, halböffentlicher und öffentlicher Funktionsbereiche muss durch die Sprache des Raums gewährleistet werden.
Können wir Räume erspüren?
Hier zeigt sich wieder die eben angesprochene Verflechtung der beiden grundlegenden Ebenen der visuellen Wahrnehmung von Räumen, die sich in den Datenströmen des Gehirns widerspiegeln. Der sogenannte „Was-Strom“ unserer visuellen Daten führt zum semantischen Gedächtnis, in dem Informationen zur Typologie des Raumes gespeichert sind. Der „Wo- oder Wie-Strom“ hingegen führt zu den motorischen Teilen des Cortex, in denen die erworbenen Handlungsmuster gespeichert sind, welche uns topologische, gestische, perspektivische Deutungen ermöglichen und entsprechende Verhaltensreaktionen steuern. Noch bevor wir die Ursache unserer emotionalen Erregung zu Gesicht bekommen, hat bereits ein Datenabgleich mit allen anderen Sinnesinformationen stattgefunden, während über die Ausschüttung spezifischer Botenstoffe unwillkürliche Verhaltensreaktionen bewirkt werden. Wir spüren auf diese Weise bereits beim Betreten eines Gebäudes, ob wir dort bleiben möchten, wie wir den Menschen gegenübertreten werden, welches Vertrauen wir ihnen entgegenbringen. Dieses spontane Gefühl hat nicht unerhebliche Auswirkungen z.B. auf Heilungsprozesse, das Arbeitsklima oder unsere Verfassung. Die visuelle Wahrnehmung gebauter Räume bestimmt die Art und Weise, wie wir Menschen und Institutionen gegenübertreten – was die Verantwortung aller Planer zur lebenslangen Bildung ihrer räumlich-visuellen Kompetenz kennzeichnet.
Wir sitzen hier in Ihrem Büro, nehmen die Atmosphäre dieses Raumes wahr. Was passiert da gerade in unseren Gehirnen?
Wenn Sie sich in diesem Raum umsehen, dann sehen Sie Bücher, Tische und Stühle, andererseits sehen sie diesen Dingen immer auch Handlungsmuster an, die uns zu ihrem Gebrauch auffordern: Sie sehen nicht nur, dass dort ein Stuhl steht, dass er zur Kategorie der funktionalen Bürostühle gehört und weniger von der Absicht der Repräsentation zeugt. Sie erkennen gleichzeitig die Möglichkeit, sich darauf zu setzten. Sie sehen seine perspektivische Position im Raum, was es ihnen erlaubt, sich rückwärts ohne Versicherung des Tastsinns darauf niederzulassen oder ihn entsprechend der gewünschten Position zurechtzurücken. Sie nehmen sein Gewicht wahr, den Sitzkomfort, die Materialität. Wenn ich darauf klopfen würde, würde ich ihre anschaulich getroffenen Vorannahmen zur Stofflichkeit vermutlich bestätigen. Sie sehen weitere Handlungsmuster, wie seine Stapelbarkeit oder seine Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Gegenständen des Raums. Diese Ebenen der Wahrnehmung können sie auf den gesamten Raum ausdehnen, das Innere dieses Büros und die Außenräumlichkeit der Bergischen Universität.
Auch hier gilt wieder, dass es sich nicht um metaphorische Erklärungsversuche handelt, sondern um handfeste wissenschaftlich belegbare Tatsachen zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Das Leistungsspektrum unserer visuellen Wahrnehmung wird zeitlebens erworben und kann ebenso auch wieder verloren gehen, wobei die angesprochenen Ebenen deutlich erkennbar und empirisch erforschbar zu Tage treten: So zeigt das Schicksal von Schlaganfallpatienten, dass semantische und syntaktische Ebenen der visuellen Wahrnehmung existieren und verloren gehen können. Betroffene sehen diesen Stuhl, ohne zu wissen, wie sie ihn nutzen können. Oder sie benutzen ihn wie zuvor, obgleich sie ihn bei Nachfragen durch die schlaganfallbedingte „Löschung“ der Kategorie nicht mehr benennen können.
Ein anspruchsvoller Museumsbau auf der einen, ein einfacher Zweckbau auf der anderen Seite – was geschieht in unseren Köpfen, dass wir das eine als wertiger wahrnehmen als das andere?
Der Mensch verfügt mit dem Moment der Geburt über eine phänomenale Wahrnehmung, erkennt Muster von Farben und Licht, ohne schon gelernt zu haben, seinen Blick entlang der gestaltbildenden Kontrastgrenzen zu fokussieren. Mit dem simultanen Tasterlebnis der Erscheinungswelt werden zunehmend mehr Verknüpfungen zwischen Formen und Kontrastgrenzen entdeckt, welche die körperhaft materialisierten Oberflächen von Menschen, Dingen und Räumen oder die atmosphärisch aufgelösten Grenzen des Bewegungsraums offenbaren. Der Erkenntnisprozess ist genetisch bei uns angelegt, weshalb das „Sehenlernen“ bis zu einem gewissen Grad nahezu ohne Lehrer erfolgreich ist, weshalb wir unsere zahllosen Fehlversuche wie unsere Fortschritte selbst kaum wahrnehmen. Ganz anders verläuft der für moderne Gesellschaften unverzichtbare Prozess der kulturellen Bildung unserer räumlich-visuellen Kompetenz, in der ich zusammengehörige Gehirnleistungen, wie die Wahrnehmungsfähigkeit, das Vorstellungsvermögen und die zahllosen anschaulichen Darstellungsfertigkeiten vereint habe. Hier gibt es weitgehende Übereinstimmungen mit dem Begriff der verbalen Sprachkompetenz, welche nicht nur die Lesefähigkeit, sondern gleichermaßen auch die Schreibfähigkeit, den Wortschatz und das Ausdrucksvermögen umfasst. Die Stimmigkeit der Teile eines Gebäudes zum Ganzen ist daher kein rein formales Problem, da sich diese erst durch die Übereinstimmung von Form und Inhalt zeigt, der nicht nur die hier ausgeführten visuellen, sondern alle Ebenen unserer räumlichen Wahrnehmung einschließt.
Mit dem reinen Funktionsbegriff lassen sich viele Phänomene der visuellen Wahrnehmung nicht erklären, da auch die transzendenten Eigenschaften des Raums wie die Ablesbarkeit von Zeitgeschichte zur kulturellen Bildung beitragen. Erst hierdurch wird deutlich, warum selbst kleinste Teile die Stimmigkeit oder Authentizität eines historischen Gebäudes empfindlich stören können, da sie vom kulturell gebildeten Betrachter als Achtlosigkeit wahrgenommen werden, wenn kein absichtsvoll gestalteter Bruch erkennbar wird. Der gebaute Raum ist ein ebenso wichtiger Teil unserer kulturellen Bildung wie das geschriebene Wort, da er jeder neuen Generation die historischen und gegenwärtigen Grundlagen individueller Existenz und gesellschaftlichen Zusammenlebens vermittelt. Jede neue Generation stellt eigene Fragen an die Stimmigkeit des gebauten Raums im Bezug zur Lebensweltlichkeit sich wandelnder Gesellschaften, weshalb historische und zeitgenössische Bauten auch wichtige Denkanstöße für die Gestaltung von zukünftigen Formen des Zusammenlebens geben.
Je höher die kulturelle Bildung eines Menschen ist, umso reicher wird das Erlebnis von selbst und Welt und umso komplexer werden die Fragen und Antworten im Prozess der visuellen Wahrnehmung des gebauten Raums. Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz ist ein unverzichtbarer Bestandteil der kulturellen Bildung aller Menschen, da sich niemand der Erlebnismächtigkeit und Funktionalität von Architektur entziehen kann.
Das gilt nicht nur für Planer, sondern für alle am Bau beteiligten Gewerke – und für Bauherren, Investoren und Nutzer.
Herzlichen Dank für das Gespräch.