Cover Kreativität im kunstpädagogischen Diskurs kopaed 2018

Einleitung

Wie alle Primaten verfügt auch der Mensch über ein angeborenes schöpferisches Leistungspotenzial. Unsere kreative Intelligenz zeigt sich immer dann, wenn wir mittels Improvisation und Überlegung Lösungsstrategien für neue Herausforderungen erfinden. Für die Bildung kreativer Fähigkeiten und Fertigkeiten, die wir gezielt zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen moderner Gesellschaften einsetzen können, brauchen wir Kenntnisse, Methoden und praktische Erfahrungen. Kreativität ist die Basis von Forschung und Innovation. Die Bildung der Kreativität fördert die Persönlichkeitsentwicklung und ermöglicht allen Individuen die Mitgestaltung der Zukunft moderner Gesellschaften. Ein Indikator dafür ist die wachsende Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft, die heute bereits einen wesentlichen Beitrag zur Wertschöpfung unserer Gesellschaft leistet. Mein Beitrag zeigt Wege zur systematischen Förderung der Kreativität auf. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Schaffung von Rahmenbedingungen, unter denen sich das schöpferische Potenzial aller Individuen optimal entfalten kann. Lehrende werden zu Initiatoren, Moderatoren und Kritikern kreativer Prozesse, deren Ergebnisse ihnen eine Fülle von Möglichkeiten zur Anregung von Verstehensprozessen und Ableitung individuell wirksamer Methoden bieten.

1. Kreativität als Faktor der Persönlichkeitsentwicklung

Menschen nutzen die angeborenen kreativen und analytischen Leistungspotenziale ihres Gehirns gleichermaßen für die Interaktion mit ihrer Lebensumwelt. Kreative Leistungen sind vorteilhaft und oftmals sogar lebensnotwendig, wenn Lebewesen mit neuen Problemstellungen konfrontiert werden und wirksame Handlungsstrategien unbekannt sind. Analytische Leistungen sind hilfreich, wenn Strategien der Problemlösungen aus wiederkehrenden erfolgreichen Handlungsmustern abgeleitet werden können. Diese angeborenen Lern- und Handlungsstrategien zur Problemlösung lassen sich nicht nur beim Menschen beobachten. Sowohl der Erwerb von Handlungsroutinen als auch das Vermögen zur Improvisation sind evolutionäre Strategien, die vielen Lebewesen das Überleben in komplexen Lebensumwelten sichern (May 1988). Kreativität und Rationalität hingegen sind kulturell gebildete Kompetenzen, die neben der Persönlichkeitsentwicklung auch den Fortschritt in Wissenschaft, Kunst und Technik antreiben (Sawyer 2012). Kreative und rationale Strategien zur Ideenfindung und Problemlösung bilden damit gleichermaßen Schlüsselkompetenzen für die erfolgreiche Partizipation von Individuen in modernen Gesellschaften (Buether 2016). Die systematische Bildung der Kreativität dient der Persönlichkeitsentwicklung und soll eine offene, neugierige und forschende Haltung gegenüber der Umwelt fördern sowie schöpferische Denk- und Handlungsstrategien vermitteln. Grundlage hierfür ist eine künstlerische Praxis, aus der sich Fähigkeiten zur Reflexion kreativer Prozesse sowie Kenntnisse und Fertigkeiten zur Anwendung wirksamer Methoden entwickeln lassen (Buether 2013). Schöpferische Freiheit ist in der Praxis stets auf Phasen gedanklicher Reflexion und systematischer Analyse angewiesen. Ideen sind regelmäßig zur Kritik zu stellen, um: a) ihre Bedeutung zu erkennen, b) ihren Sinn zu verstehen, c) mögliche Entwicklungspotenziale wahrzunehmen, d) ihre Qualitäten zu bewerten, e) besonders prägnante Varianten auszuwählen, f) Prototypen zu testen und g) begründete Entscheidungen zu treffen.

Denn Innovationen sind nur dann möglich, wenn erprobte Denk- und Handlungsstrategien verlassen, unbekannte Wege beschritten, Fantasien zugelassen und auch utopische Ziele gesetzt werden sowie Scheitern in Kauf genommen wird. Die intendierte, methodische Förderung der Kreativität stärkt die positive Grundhaltung von Individuen zur Gesellschaft, die jeder neuen Generation einen Freiraum für eigene Erfahrungen, neugierige Forschungsanstrengungen und schöpferische Umgestaltungen bietet. Kreativität ist eine fantasievolle Methode der Weltaneignung, Basis für spielerisch-experimentelles Lernen und Voraussetzung für die Herausbildung einer eigenständigen schöpferischen Position.

2. Kreativität als Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts

Die methodische Förderung der Kreativität dient nicht allein der Persönlichkeitsbildung und Lebensbewältigung, sondern hat darüber hinaus auch einen enormen gesellschaftlichen Nutzen. Die ständig wachsenden Felder der Kultur- und Kreativwirtschaft bilden den am schnellsten wachsenden Sektor der Weltwirtschaft. Kreativität gehört heute in nahezu allen beruflichen Handlungsfeldern zu den zentralen Schlüsselkompetenzen, da viele Problemlösungen nicht allein durch analytische Methoden gefunden werden können. Jedes Individuum muss lernen, Sachverhalte und Handlungsroutinen kritisch zu hinterfragen, unbekannte Lösungswege auch mit dem Wagnis des Scheiterns zu beschreiten und hierdurch gefundene Positionen argumentativ in diskursiven Prozessen zu behaupten. Wir brauchen neue Lösungen für die ungelösten Probleme der Gegenwart, innovative Produkte und kreative Menschen in allen zukunftsrelevanten Berufsfeldern, insbesondere auch in denen der MINT-Qualifikationen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Jeder Mensch ist kreativ, doch vergleichbar mit den Anlagen zum logischen Denken kann sich das schöpferische Potenzial nur durch explizite Förderung entfalten (Hüther & Hauser 2012). Die methodische Förderung der Kernkompetenz Kreativität sollte daher zu einer zentralen Aufgabe der Kunstdidaktik ausgebaut werden. Kreativitätstechniken und Methoden ihrer Anwendung könnten dann sowohl fachspezifisch als auch fächerübergreifend in ihrer Bedeutung für Kunst, Sprache und Wissenschaft vermittelt werden.

Die Kultur- und Kreativwirtschaft liefert gegenwärtig einen maßgeblichen Beitrag zur Gesamtwirtschaft moderner Gesellschaften. Durch die fortschreitende Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsfelder wird sich dieses Wachstum weiter dynamisieren. Mehr als 250.000 Unternehmen mit etwa 1,6 Millionen beschäftigten Menschen setzen allein in Deutschland mehr als 150 Milliarden Euro mit der kreativen Gestaltung des Kulturraums um (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2016). Die Bruttowertschöpfung der Kultur- und Kreativwirtschaft liegt damit heute schon über den Zahlen der Chemischen Industrie und der Energiewirtschaft. Sie nähert sich der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Maschinenbaus und der Automobilindustrie (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2016). Die Kultur- und Kreativwirtschaft setzt sich aus verschiedenen Kernbereichen zusammen, deren Beschäftigungszahlen unterschiedlich starken Entwicklungsdynamiken unterliegen. Angeführt von der Software/Games-Industrie, dem Presse- und Werbemarkt sowie der Designwirtschaft folgen im Mittelfeld der Architekturmarkt, der Buchmarkt, die Filmwirtschaft und die Musikwirtschaft. Im hinteren Feld folgen die Rundfunkwirtschaft, der Markt für darstellende Künste und der Kunstmarkt (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2016). In die Zahlen der Kultur- und Kreativwirtschaft sind die kreativen Köpfe der Industrie noch gar nicht eingerechnet, welche gemeinsam mit den wissenschaftlich-technologischen Fachkräften den globalen Erfolg moderner Produkte und Dienstleistungen ermöglichen. Kreativität ist eine Schlüsselkompetenz bei der Suche und Erforschung von nachhaltigen, gesundheits- und umweltverträglichen Produkten, Produktionsmethoden, Gebäuden, Infrastrukturen, Kommunikationstechnologien und Dienstleistungen. Erst durch Innovationen in allen Bereichen unserer Lebens- und Arbeitswelt werden wir die Herausforderungen der Zukunft meistern. Der Kunstunterricht kann den Heranwachsenden eine kritisch-konstruktive Haltung zu den Auswirkungen globaler Konsummechanismen vermitteln. Ein Diskurs kann zeigen, wie wir unsere Kreativität für einen verantwortungsvollen Umgang mit den begrenzten Ressourcen der Welt einsetzen können. Design Thinking und Designethik gehören zusammen, wenn Kreativstrategien im Kunstunterricht vermittelt werden, auch wenn das Letztere in Deutschland noch immer ein nahezu unentdecktes Forschungsfeld bildet (Buether, 2016).

3. Didaktik der Kreativität

Durch die Schaffung wichtiger Rahmenbedingungen und die methodische Förderung emotionaler und kognitiver Schlüsselfaktoren können Lehrende gezielt auf die schöpferischen Leistungen aller Lernenden einwirken und kreative Prozesse initiieren (Buether, 2013). Im Folgenden werden zehn Punkte zur methodischen Förderung von Kreativität näher dargestellt, aus denen Lehrende selbst eine Didaktik der Kreativität entwickeln können (vgl. Kasten 1). Wie jede Lehrkunst lässt sich auch diese nicht durch alleiniges Studium von Inhalten und Methoden erwerben, sondern ausschließlich durch Erprobung und Evaluation von Theorie in der Projektpraxis. Lehrende müssen sicherstellen, dass Lehreinheiten zur Förderung der Kreativität einen offenen, forschend-experimentellen und diskursiv-kritischen Charakter haben. Übungen zur Kreativitätsförderung im Unterricht sollen die Fantasie anregen und Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft aller Lernenden entwickeln.
Aufgabenstellungen müssen inhaltlich, zeitlich und methodisch klar strukturiert sowie einfach und verständlich formuliert werden. Während Ziele genau definiert werden müssen, sollen Lösungswege frei und Ergebnisse offen bleiben. Die Qualität einer Aufgabe zur Förderung von Kreativität zeigt sich an der Diversität von Lösungswegen und Ergebnissen. Kollektive Arbeit an kreativen Aufgabenstellungen ist förderlich, wenn alle Gruppenmitglieder einen eigenständigen schöpferischen Beitrag zum Gesamtergebnis leisten. Die Aufgaben von Lehrenden beginnen bei der Schaffung der Bedingungen, in denen sich Kreativität entfalten kann. Sie führen über die Betreuung von forschend- experimentellen und kritisch-diskursiven Prozessen, in denen sich Kreativität ereignen kann und reichen bis zur Bewertung und Evaluation. Der Wert einer Kreativitätsübung zeigt sich an der Innovationskraft der Idee, die sowohl am Prozessverlauf als auch am Werk ablesbar sein kann.
Wichtige Kriterien für die Bewertung von Übungen zur Kreativitätsförderung liefern die folgenden Fragen, die sinngemäß ergänzt werden können:
a)     Wie interessant sind die Fragen, welche die Lernenden zu Projektbeginn, im Projektverlauf oder am Projektende sich und anderen stellen?
b)     Ist ein eigenständiger ästhetischer oder wissenschaftlicher Forschungsansatz erkennbar und mit welchem Risiko und welcher Konsequenz wurde dieser verfolgt?
c)     Gab es ästhetische, mediale oder technische Erfindungen im Projektverlauf und welchen Wert hatten diese für die Entwicklung der Idee?
d)     Welche Herausforderung bietet das Werk in Bezug auf ästhetische (Wahrnehmung), technische (Produktion) und mediale (Kommunikation) Fragestellungen?
 
Die Qualität und Kraft von Innovationen lassen sich entweder absolut oder subjektbezogen bewerten. Absolute Bewertungen von Innovationen finden sich im Bereich von Kunst und Wissenschaft, wo die Einzigartigkeit von Erkenntnissen, Praktiken und Werken einen Anspruch auf Urheberschaft bewirkt. Im Bereich der Bildung muss die Bewertung des Innovationsgehaltes hingegen subjektbezogen und vor dem Kontext der Lernsituation erfolgen. Was neu und innovativ für Lernende ist, lässt sich allein durch den Lernerfolg begründen, wobei der gesamte Projektverlauf in Betracht gezogen werden muss. Der schöpferische Prozess sollte daher von Beginn an bis zum fertigen Werk in einem Skizzenbuch dokumentiert werden, in dem neben Ideenskizzen und Abbildungen vom gesamten Werkprozess auch Fragen, Kritik und Antworten enthalten sein sollen.

10 Punkte zur methodischen Förderung kreativer Prozesse

1. Muße – Freiräume für spielerisch-experimentelle Situationen schaffen

2. Arbeitsatmosphäre – Thematisch anregende Kontexte herstellen oder suchen

3. Lustgefühl – Emotional motivierende Einstellung zum Thema finden

4. Interesse – Gedanklich motivierende Perspektive auf das Thema finden

5. Reflexion – Wahrnehmung und Bewertung des Prozessverlaufs

6. Ideenfluss – Den Weg zum Ziel machen und auf Entdeckungsreise gehen

7. Synergien – Partizipatives Lernen und autonomes Denken im Diskurs

8. Inspiration – Soziokulturellen und interdisziplinären Austausch suchen

9. Improvisation – Kultivierung von Spontanität und Bauchgefühl im Stegreif

10. Originalität – Fokussierung auf die Ideensuche und die Persönlichkeitsbildung

 

ganzer Buchbeitrag in:

Kreativität im kunstpädagogischen Diskurs

Nicole Berner (Hrsg.)

kopaed Verlag ISBN 978-3-86736-147-7

Schriftenreihe Kontext Kunstpädagogik
Band 47, München 2018, 301 Seiten

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