Abstract

Das technische, inhaltliche und dramaturgische Potenzial von 360°-Projektionen eröffnet einen Experimentierraum, in dem wir realistischere und fantastischere Welten schaffen sowie komplexere Probleme darstellen und lösen können, als mit allen bisher bekannten audiovisuellen Medien. Durch die sphärische Projektion von Informationen erhalten wir ein anschauliches Sprachsystem, das der Verarbeitung von räumlich-visuellen Daten im Gehirn weitaus näher kommt, als die verfügbaren Standardbildformate. Hierdurch können alle sinnlich erfahrenen und kognitiv erkannten Umweltbeziehungen weitaus besser als bisher auf anschauliche und auditive Weise zur Sprache gebracht werden. Auch wenn ich mich in diesem Beitrag auf das visuelle Potenzial beschränken muss, sollen die aufgezeigten gemeinsamen Strukturen zwischen der Wort- und Bildsprache zur Nutzung von Synergien anregen und die Lesbarkeit von Botschaften fördern. Das Informationspotenzial von 360°-Projektionen wird sich in dem Maß auf unser Kommunikationsverhalten, die Umweltgestaltung sowie unsere Intelligenzentwicklung auswirken, wie es uns gelingt, die damit verbundenen sinnesphysiologischen und kognitiven Anforderungen zu verstehen und in lebenspraktische Anwendungen zu überführen.

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Wie 360° Projektionen unsere Intelligenzentwicklung fördern können

Das technische, inhaltliche und dramaturgische Potential von 360° Projektionen
eröffnet uns einen Experimentierraum, in dem wir realistischere und phantastischere
Welten schaffen sowie komplexere Probleme darstellen und lösen können, als mit
allen bisher bekannten audiovisuellen Medien. Durch die sphärische Projektion von
Informationen erhalten wir ein anschauliches Sprachsystem, das der Verarbeitung
von räumlich-visuellen Daten im Gehirn weitaus näher kommt, als die verfügbaren
Standardbildformate. Hierdurch können wir alle sinnlich erfahrenen und kognitiv
erkannten Umweltbeziehungen weitaus besser als bisher auf anschauliche und
auditive Weise zur Sprache bringen. Auch wenn ich mich in diesem Beitrag auf das
visuelle Potential beschränken muss, sollen die aufgezeigten gemeinsamen
Strukturen zwischen der Wort- und Bildsprache zur Nutzung von Synergien anregen
und die Lesbarkeit unserer Botschaften fördern. Das Informationspotential von 360°
Projektionen wird sich daher in dem Maß auf unser Kommunikationsverhalten, die
Umweltgestaltung sowie unsere Intelligenzentwicklung auswirken, wie es uns gelingt,
die damit verbundenen sinnesphysiologischen und kognitiven Anforderungen zu
verstehen und in lebenspraktische Anwendungen zu überführen.
Die nahezu perfekte Immersion stellt unsere visuelle Wahrnehmung, unsere
anschauliche Vorstellungskraft sowie unser räumliches Denken vor große
Herausforderungen, denen wir durch die bloße Übertragung unserer Konzepte aus
der Arbeit mit konventionellen rechteckigen Bildmedien nicht gerecht werden. Gestik,
Typos, Topos und Perspektive konventioneller Bildmedien sind auf den Ausschnitt
optimiert, in dem sich das gesamte Geschehen wie auf einer Bühne
zusammendrängt. In diesen exakt vorgezeichneten Handlungsbereich taucht der
Betrachter ein, der im Sinne der selektiven Suche nach Information weitgehend
passiv bleibt, während er seine eigene Rolle im Kommunikationsprozess sowie das
Geschehen rund um den Rand des Bildmediums permanent verdrängt. Was passiert
mit uns, wenn wir diese Grenze plötzlich nicht mehr wahrnehmen? Wie reagieren wir,
wenn wir selbst plötzlich mit auf der Bühne stehen und zum Teil des Geschehens
werden? Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich hieraus für Medientheoretiker,
Mediengestalter und Medienverwender?
Das menschliche Genom hat sich seit 100.000 Jahren nicht weiter verändert. Die
kulturelle Evolution gründet sich daher weitgehend auf die Entwicklung von
räumlichen Kommunikationssystemen, die wir in Form unserer Siedlungsräume,
Infrastrukturen, Wissensarchive, Artefakte, Sprachen und Netzwerke global und
generationsübergreifend gebrauchen. Jede innovative anschauliche
Darstellungstechnik führt daher zwangsläufig zur Weiterentwicklung unserer
visuellen Intelligenz, die sich auf Grund der Plastizität unserer Gehirnstrukturen
lebenslang fördern lässt. Sphärische 360° Projektionen erfordern neue formale,
inhaltliche und dramaturgische Strategien im Umgang mit Bildmedien, die wiederum
tiefgreifende Veränderungen in den auditiven Bereichen Sprache, Geräusch und
Musik nach sich ziehen. Dieser Beitrag soll ein Bewusstsein für die Komplexität
dieser Thematik schaffen und die davon ausgehenden Herausforderungen für unser
Raumdenken aufzeigen.

Wieso wir Raum im Gehirn konstruieren und um uns herum wahrnehmen

Die Umwelt ist uns nicht objektiv erkennbar, da wir von ihr lediglich eine lebenspraktische Vorstellung entwickeln können, die von der Leistungsgrenze und
genetischen Disposition unseres Nervensystems begrenzt wird. Dieses besteht aus
einem zentralen und einem peripheren Teil, die gemeinsam ein selbstreferenzielles
System entstehen lassen, das durch interne und externe Kommunikationsprozesse
Informationen generiert. Im Zentrum befindet sich das Gehirn, während die
Peripherie die Grenze zwischen Körper und Raum bildet. Die Aktivitäten in der
Netzhaut unserer Augen steuern die Informationserzeugung im Gehirn, was zugleich
auf diese Prozesse und den gesamten Körperzustand zurückwirkt. Alles ist durch die
Nervenbahnen mit Allem verknüpft, weshalb jede interne Veränderung ebenso zu
einer Neustrukturierung der sichtbaren Welt führt, wie externe Vorgänge oder unsere
eigenen Handlungen.
Farbe und Licht sind keine universellen Größen, sondern menschliche
Wahrnehmungen, die wir als Phänomene erleben. Über die Erscheinungsweisen
unseres Lebensraumes haben wir Zugang zum energetischen Potential der Umwelt,
das wir beständig für das Überleben und die kulturelle Fortentwicklung unserer
Spezies nutzen. Unsere kognitiven Leistungen entwickeln sich in Abhängigkeit von
unseren anwendungsbezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Gebrauch der
einzelnen Sinnessysteme im Erkenntnis- und Verständigungsprozess. Aus der
weiterführenden Erforschung der physiologischen Grundlagen für die menschliche
Sehfähigkeit bis hin zu den bewusstseinsfähigen Verarbeitungsregionen des Gehirns
hat sich herausgestellt, dass es sich hierbei um eine spezifische Form der
Erkenntnistätigkeit handelt. Das Sehen ist ein bewusstseinsbildender Prozess,
dessen Ergebnis sich in den neuronalen Strukturen unseres Nervensystems
repräsentiert. Hieraus wird deutlich, in welcher Form wir über räumlich-visuelle
Informationen von unserer natürlichen und soziokulturellen Umwelt lernen und wie
sich gleichzeitig mit der Zunahme an Wissen auch das Leistungsvermögen unseres
Gehirns steigert. Die Strukturen dieses neuronalen Erkenntnismodells bilden im
Moment den Gegenstand für einen der spannendsten Diskurse in den
Wissenschaften. Nach Ansicht einiger Vertreter der Neurowissenschaften, wie
Gerhard Roth und Wolf Singer spiegelt die „Welt in unserem Kopf“ lediglich das
Zwischenergebnis eines interkulturellen und generationsübergreifenden
Konstruktionsprozesses wider.
Die heute im Bereich der Neurowissenschaften weitgehend akzeptierte
Repräsentationshypothese zeigt, dass sich jedes Individuum im Verlauf seiner
Individualentwicklung ein subjektives Referenzmodell seiner eigenen
Lebenswirklichkeit aus den Konsequenzen seiner Handlungen konstruiert. Moderne
bildgebende Verfahren, wie die Magnetresonanztomographie (MRT), erlauben uns
heute erste Einblicke in die Funktionsweise unseres Gehirns, da wir die neuronale
Resonanz auf gedankliche und emotionale Prozesse sichtbar machen können. Doch
nicht nur die Bilder, die wir unseren Probanden zeigen, sondern der gesamte Raum
um uns herum, sind Konstruktionen unseres Gehirns, die wir in den Außenraum der
Umwelt hinein projizieren. Die Umwelt ist uns nur über den Filter unserer Sinne
erkennbar, auch wenn sie die Ursache unserer Wahrnehmungen und die Matrix
unserer Handlungen bildet. Sowohl die Räumlichkeit, wie auch die
Interaktionsmöglichkeiten von sphärischen 360° Projektionen weisen einen Weg,
über den wir die Arbeitsweise unseres Gehirns wie in einem Spiegel sichtbar machen
können. Wenn 360° Projektionen systematisch für Forschung und innovative
Anwendungen eingesetzt werden, könnten hiervon in Zukunft noch viele Impulse für
eine Weiterentwicklung unserer Fähigkeit zum Raumdenken ausgehen.

Wie aus 360° Projektionen leistungsfähige räumliche Sprachsysteme werden

Die Strukturierung des anschaulichen Wahrnehmungs- und Vorstellungsraums spiegelt sich in der semantischen Bedeutungsstruktur und der syntaktischen Handlungsstruktur der Wortsprache wider. Die „Grammatik des Sehens“ ist evolutionär weitaus älter als die Herausbildung der Wortsprache, deren Prinzipien auf unseren Anschauungen und ihren Verknüpfungsmöglichkeiten basieren. Unser Kulturraum weist einen weitaus höheren Grad an sprachlicher Vorstrukturierung auf, als der Naturraum, da wir ihn generationsübergreifend über den Beobachtungs- und Gestaltungsprozess an unsere Bedürfnisse angepasst haben. Unsere Siedlungsräume, Gebrauchsgegenstände, Kunstwerke und Kommunikationsmedien haben sich in einem kontinuierlichen Verständigungsprozess entwickelt. Wie unser Gehirn Raum konstruiert, können wir daher an der kulturellen Transformation des Naturraums erkennen. Der Kulturraum ist auf eine Weise gestaltet, nach der uns alle Orte und Dinge auf anschauliche Weise über ihre Lage (Topos) und ihren Gebrauchszweck (Typos) informieren. Im Gehirn konstruieren wir uns von Geburt an den „Anschauungsraum“ als Metarepräsentation aller sinnlich erfahrenen Bedeutungen. Aus dem Zusammenhang zwischen dem visuellen Zeichen und dem davon bezeichneten Inhalt wird deutlich, warum wir Materialien, Formen, Konstruktionen, Proportionen, Gerüche, Klänge, Emotionen, Verhaltensweisen und Handlungszusammenhänge sehen und über anschauliche Kulturtechniken bildnerisch, körperlich sowie räumlich zur Sprache bringen können. Der Anschauungsraum ist für uns nicht ein Sinnesraum unter vielen, sondern er bildet den gemeinsamen Sinn- und Bedeutungshorizont unserer haptischen, kinästhetischen, vestibulären, akustischen, gustatorischen und olfaktorischen Erfahrungen. Es handelt sich um ein kausales Beschreibungsmodell, in dem wir alle erfahrenen Wirkungen aus dem Prozess der multisensualen Auseinandersetzung mit der Umwelt nach den Prinzipien der Kausalität, Kontingenz und Wahrscheinlichkeit systematisieren. Die Ursachen projizieren wir auf die Umwelt, weshalb wir deren Erscheinungsweisen nicht mehr nur als Farb- und Lichtphänomene wahrnehmen, sondern als bedeutsame Bestandteile eines Zeichensystem. Was sich vor unseren Augen wiederholt ereignet, wenn wir mit allen Sinnen agieren und reagieren, erzeugt die kausalen Beziehungen zwischen den räumlich-visuellen Zeichen und deren inhaltlichen Bedeutungen. Diese assoziative Verknüpfungsstruktur unseres Anschauungsraums aktualisieren wir zeitlebens, damit sie uns jederzeit möglichst widerspruchsfrei und verständlich bleibt. Die Entdeckung der semantischen Beziehung zwischen einem räumlich-visuellen Zeichen und der hiervon bezeichneten Bedeutung bildet die Voraussetzung für dessen syntaktische Verknüpfung mit dem Kontext der Kommunikationssituation. Auch in der Lautsprache bleibt ein einzelner Begriff solange zusammenhanglos, bis der Leser sich dessen Bedeutung über den Satzgebrauch oder den Kontext der Verwendungssituation erschließen kann. Die Konzeption und Gestaltung von 360° Projektionen sollte daher in Bezug auf die sprachliche Struktur der visuellen Zeichen erfolgen. Der Blick in die Panoramakuppel zeigt nicht nur ein Bild, sondern ein räumliches Zeichensystem, über dessen semantische und syntaktische Strukturen ein gezielter Dialog mit der Zielgruppe aufgenommen und gestaltet werden kann. Die Nachhaltigkeit jeder Botschaft repräsentiert sich in den gedanklichen und emotionalen Anregungen, welche die Zielgruppe von dem Erlebnis mitnimmt. Das einzigartige Kommunikationspotential von 360° Projektionen offenbart sich erst dann, wenn wir es als Erkenntnis- und Verständigungs- sowie Problemlösungs- und Vermittlungsmedium entwickeln. Die neue Ästhetik folgt der Sprachfunktion ganz von selbst, was sich bis heute an jeder Kommunikationstechnik gezeigt hat. Alle Zeichen im Bildraum stehen über ihre Bedeutungen untereinander in Verbindung, weshalb sich nichts hinzufügen oderwegnehmen lässt, ohne dass sich die Botschaft verändert. Damit die Inhalte und ihre Gesamtaussage wahrgenommen werden können, sollte der Umgang mit den Ereignissen im Projektionsraum möglichst sparsam erfolgen. Ästhetik ist kein Selbstzweck, sondern eine Funktion, die der Lesbarkeit unserer Ideen dient!

Warum sich unser Sehen nur aus dem Kontext der Kommunikationssituation erklären lässt

Von den Augen werden die vorstrukturierten Farb- und Lichtsignale über unsere
Sehnerven zum Stammhirn weitergeleitet, wo sie nach ungefähr 60 Millisekunden mit
allen anderen simultan eintreffenden Sinnesdaten abgeglichen werden. Hierdurch
werden bereits nach etwa 100 Millisekunden angeborene Verhaltensmuster und
Reflexe aktiviert. In dieser Phase nehmen wir noch keine konkreten Inhalte der
Umgebungssituation wahr, da sich unser Körperzustand unwillkürlich und unbewusst
auf das erwartete Ereignis vorbereitet. 360° Räume wirken immer atmosphärisch, da
sich unser Erregungs- und Gefühlszustand nicht nur auf konkrete Inhalte, sondern
auch auf Phänomene, wie Farbe, Licht, Klang, Form und Bewegung, einstimmt. Alles,
was wir bei 360° Projektionen tun oder lassen, wirkt auf den Betrachter. Ist es am
Beginn oder bei einem Szenewechsel hell oder dunkel? Erscheint uns das erste
Ereignis monochrom oder polychrom? Wie schnell beginnen die Bewegungen?
Sehen wir anfangs bereits Formen oder tauchen wir zuerst in die Atmosphäre ein?
Hören wir etwas, bevor wir etwas sehen? Werden verstehbare Worte und Musik an
uns herangetragen oder erleben wir erst eine Geräuschkulisse oder einen
Klangraum?
Im visuellen Cortex werden die von den Augen kommenden Signale weiterverarbeitet
und über zwei Hauptverarbeitungsströme parallel zu unseren Gedächtnisarealen
geleitet. Der zum deklarativen Gedächtnis verlaufende „Wo-Strom“ dient der
Bewegungs-, Handlungs-, und Positionswahrnehmung, während uns der zum
semantischen Gedächtnis verlaufende „Was-Strom“ die Identifikation von Dingen
nach ihrer Bedeutung ermöglicht. Jedes Ereignis im Bildraum wird daher zum einen
nach seiner inhaltlichen Bedeutung bewertet, zum anderen nach seiner Aufgabe im
Handlungskontext der gesamten Präsentationssituation. Nicht nur was wir projizieren,
sondern ebenso, wohin wir etwas plazieren, wem es nahe kommt und wem es fern
bleibt, von wo es sich her- und wo es sich hinbewegt, hat formale, inhaltliche und
dramaturgische Konsequenzen auf die Botschaft.
Die Ergebnisse unserer Deutungstätigkeit können mehrdeutig sein, weshalb noch ein
weiterer Verarbeitungsschritt im Gehirn folgt, bis wir das Ergebnis der
Informationsgenerierung im Gehirn auch in räumlich-visueller Form zu Gesicht
bekommen. Die visuellen Datenströme enden und beginnen in den motorischen und
emotionalen Steuerungszentren des Gehirns.
Im letzten Verarbeitungsschritt werden die erzeugten Informationen bewertet, was
entscheidet, welche Informationen am Ende in das Arbeitsgedächtnis gelangen.
Unser Arbeitsgedächtnis, dessen Inhalt über unsere bewussten visuellen
Wahrnehmungen entscheidet, hat im Vergleich mit dem Langzeitgedächtnis eine
sehr geringe Speicherkapazität. Hier bietet sich ein Vergleich mit dem Computer an,
bei dem die Inhalte von der ebenfalls weitaus größeren Festplatte zur Verarbeitung in
den Arbeitsspeicher geladen werden müssen. In diesem Sektionsprozess der
potentiellen Informationen zählt die Ratio ebenso wie das Gefühl, wobei letztendlich
ein Kriterium von entscheidender Bedeutung ist: Was uns nicht interessiert, nehmen
wir auch nicht wahr! Alle für uns unbedeutenden oder unzusammenhängenden Wahrnehmungen werden unterdrückt und verbleiben im Hintergrundbewusstsein.
Durch die Selektion von bedeutsamen Informationen schützt sich unser Gehirn vor
einer Reizüberflutung, was das Überleben unserer Spezies bis heute gesichert hat.
Dieser Zusammenhang wirkt sich maßgeblich auf die Konzeption und Umsetzung
von 360° Projektionen aus, bei denen sich die Aufmerksamkeitssteuerung weitaus
schwieriger gestaltet, als bei konventionellen Formaten.

Von der Bewegungsdynamik zur Handlungsspur

Durch die Fähigkeit zur Verfolgung von beweglichen Zielen müssen wir auf den
totalen Raumüberblick verzichten, wie ihn z.B. Kaninchen erleben. Durch ihre seitlich am Kopf befindlichen Augen, deren Radien sich vorne und hinten überlappen, bildet sich ein Gesichtsfeld von 360°. Durch der Fähigkeit zur Rundumsicht verringert sich die räumliche Auflösung des Gesichtsfeldes jedoch deutlich, wenn man sie mit den Spezies vergleicht, die über bewegliche Augenpaare verfügen. Mit dem
panoramaartigen Gesichtsfeld ist ein Rückgang aller Form-, Farb- und
Bewegungsinformationen verbunden. Der Mensch dagegen kann durch seine beiden
engstehenden Augen, deren Netzhautareale zudem nur ein winziges Feld aufweisen,
auf dem der projizierte Inhalt hochaufgelöst und scharf erscheint, lediglich einen
Ausschnitt von 2° seines Umraums fixieren. Erst durch die Blickbewegungen
verknüpfen sich die einzelnen Fixationen zu einem fortlaufenden Geschehen. Der
gesamte periphere Bereich der Netzhaut dient der Blickführung, weshalb es
ausreicht, dass dieser Bereich weit weniger Rezeptoren aufweist und daher
schemenhaft bleibt. Am besten stellen wir uns das statische Netzhautbild wie eine
ständig beschlagene große Fensterscheibe vor, durch die lediglich ein diffuses Bild
der Umgebung dringt, während sich im Zentrum eine winzige klare Stelle zeigt. Mit
unseren Blickbewegungen zeichnen wir eine Spur in das diffuse Feld aus
schemenhaften Ereignissen, die uns ausschließlich in den Ruhephasen deutlich
sichtbare Wahrnehmungen erlaubt. Durch die hohe Geschwindigkeit der Fixierungen
und die verzögerte Reaktion des Wahrnehmungsapparates haben wir den Eindruck,
dass sich vor unseren Augen ein räumliches, bewegtes, farbiges, scharfes und
detailreiches Bild der Umgebung befindet, das uns einen Spielraum für Interaktionen
eröffnet.
Der evolutionäre Vorteil von engstehenden beweglichen Augen liegt in der Fähigkeit
zur Fixation von beweglichen Zielen. Aus den Vektordaten berechnet unser Gehirn
bekannte Handlungsmuster und Bewegungsverläufe, was uns die Fähigkeit zur
Voraussicht ermöglicht. Nicht umsonst findet sich der bewegliche Augentyp
vorwiegend bei Raubtieren, deren Gehirne die Bewegungsintentionen ihrer meist
schnelleren und wendigeren Beute vorausberechnen können, was ihnen die Planung
und Optimierung ihrer Aktionen erlaubt.
Für die 360° Projektion besitzen die Bewegungsdynamiken des Bildes eine
besondere Bedeutung, da sie sowohl den Handlungsfaden, wie auch die
Dramaturgie der Erzählung vorgeben und hierdurch die Erwartungshaltung des
Betrachters steuern. Aus der räumlichen und zeitlichen Konzeption der Ereignisse im
gesamten 360° Projektionsraum resultieren die Lesebewegungen unserer Zielgruppe,
deren Blickrichtung wir damit aus der Ferne führen können. Sowohl die Orte, auf
denen unser Blick ungewöhnlich lang verweilt, als auch die Spur, die wir mit unseren
Augenbewegungen zeichnen, geben anderen Menschen Einblick in unsere
Gedanken und Gefühle. Manche unserer Absichten kündigen sich durch unseren
vorauseilenden Blick an, über den wir geplante Handlungen vor der Ausführung
gedanklich antizipieren. Jedes visuelle Ereignis kennzeichnet einen
Verhaltenszustand und eine Handlungsspur, die sich für unser „geistiges Auge“ von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft abzeichnet.

Wie das Gesichtsfeld und Blickfeld die Raumwahrnehmung bestimmen

Etwa 50° beträgt das Blickfeld, das der Mensch als natürlich empfindet, da seine
Augen in diesem Bereich ihre maximale Beweglichkeit besitzen und daher lange Zeit
schnelle Fixationsbewegungen ausführen können. Wir sind so daran gewöhnt, dass
sich dieser Winkel als Standardbrennweite aller Kameraobjektive und Projektoren
durchgesetzt hat. Auch bei der Bildbetrachtung orientieren wir uns intuitiv an diesem
Abstand und nehmen je nach Größe des Exponats eine entsprechende Entfernung
ein. Wir spüren, wenn wir diesen Winkel unter- oder überschreiten, was wir durch die
Veränderung unseres Betrachtungsabstandes bewusst herbeiführen oder korrigieren
können. Wird der Standpunkt eines Betrachters auf ein Blickfeld fixiert, wie etwa
durch die Vorgabe einer Sitzposition, muss sich die Größe der Projektionsfläche
daran orientieren. Erst dann können alle handlungstragenden Inhalte vom Betrachter
in der zur Verfügung stehenden Zeit erfasst werden. Ist das Bildformat größer oder
unser Abstand zu gering, verschwinden die Randbereiche im peripheren
Gesichtsfeld, das in horizontaler Ausdehnung etwa 180° und in vertikaler Richtung
etwa 130° umfasst, wovon 60° oberhalb und 70° unterhalb des Bildhorizonts liegen.
Während sich das hieraus folgende Bildformat durch Standardisierungen, die vom
„Goldenen Schnitt“ bis zur DIN reichen, durchgesetzt hat, gab und gibt es seit
Jahrtausenden immer wieder Abweichungen von dieser ergonomisch bedingten
Norm. Wo immer Bilder Wand- oder gar Raumfüllend verwendet wurden, findet sich
der Betrachter mitten im virtuellen Geschehen wieder.
Im Regelfall nutzen wir von unserem Gesichtsfeld jedoch meist nur das sogenannte
Gebrauchsblickfeld, welches lediglich einen Raumausschnitt von 40° abdeckt. Zur
Vermeidung von Ermüdungserscheinungen bewegen wir unsere Augen nur in einem
Radius, der etwa 20° rechts und links vom vorgegebenen Blickpunkt liegt. In
vertikaler Richtung führen wir dabei Blickhebungen von 10° und Blicksenkungen von
30° aus. Während dieses eingeschränkte Blickfeld bei Standardformaten problemlos
eingehalten werden kann, indem die Komposition zentral und mit etwas Entfernung
zum Bildrand angeordnet wird, muss für Konzeptionen von 360° Projektionen ein
völlig neuer Ansatz gefunden werden. Das Problem lässt sich an einem Beispiel
verdeutlichen. Bei einem Tennisspiel können die parallel zum Netz sitzenden
Zuschauer wahlweise das Geschehen auf jeweils einer Seite des Spielfeldes
verfolgen oder ihre Aufmerksamkeit auf den Weg des Balls konzentrieren, was ihnen
permanente Kopfwendungen abverlangt. Allein die Totalaufnahme einer
Fernsehkamera erlaubt uns den Überblick, da wir hierdurch das gesamte Geschehen
im Standardbildformat präsentiert bekommen. Da wir in panoramaartigen
sphärischen Projektionsräumen lediglich ein kreisrundes Feld von etwa 40° simultan
überblicken, bekommen wir die restlichen 320° des Geschehens nur durch gezielte
Kopfwendungen zu Gesicht, die genügend Bewegungsfreiheit und eine maßgeblich
längere Reaktionszeit erfordern. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist die
Bindung des Betrachters an einen festen Sitz- oder Stehplatz kontraproduktiv. Wie in
einem ausgemalten Kirchenraum möchten wir die einzigartige Atmosphäre auf uns
wirken lassen und uns frei im Raum bewegen. Das Innovationspotential von 360°
Projektionen besteht in der unendlichen Vielfalt der Perspektiven, über die sich der
Gestaltungs- und Rezeptionsspielraum deutlich erweitern lässt. Für die inhaltliche,
zeitliche und dramaturgische Konzeption von 360° Projektionen ist das
Gebrauchsblickfeld von maßgeblicher Bedeutung, da es das Fenster zum
Bewusstsein des Betrachters bildet. Wechseln die Ereignisse zu schnell hat das die
gleiche Bedeutung für das Verständnis der anschaulich übermittelten Botschaft, wie ein zu schnell gesprochener Text. Sind sie zu weit voneinander entfernt, muss sich
der Betrachter entscheiden, welchem Ereignis er sich zuwendet und welches er
ignoriert. Für jede Konzeption von 360° Projektionen gilt daher der Satz: Was wir
zeitlich und räumlich nicht in den Blick nehmen können, verstehen wir nicht!

Wozu ein „Geführtes Sehen“ in optimaler Lesegeschwindigkeit sinnvoll ist

Die bereits pränatal angelegte motorische Fähigkeit zur unwillkürlichen
reizgerichteten Augenbewegung bildet die physiologische Voraussetzung für die
Entwicklung unserer räumlich-visuellen Gehirnleistungen. Die Willkürbewegungen
dagegen verweisen auf den bereits erworbenen Wissensstand. Aus Gründen der
Effizienz nutzen wir zunehmend unsere Augenbewegungen, um die für uns bereits
inhaltlich bedeutsamen Farb- und Lichtstrukturen der Umwelt abzutasten. Unsere
Blickbewegungen „zeichnen“ den Gedankengang mit und bekunden unser Interesse
an der Umgebungssituation. Ein ziellos schweifender Blick zeugt dagegen von
unserem Desinteresse am äußeren Wahrnehmungsraum. Sobald die
Aufmerksamkeit auf den gedanklichen Gang durch unseren inneren
Vorstellungsraum gerichtet ist, wirkt unser Blick daher leer und abwesend.
Blickbewegungen lassen sich als anschauliche Form der Lesekompetenz verstehen,
da wir uns über die räumlich-visuelle Zeichenstruktur der Umwelt Bedeutungen,
Verhaltenszustände und Handlungszusammenhänge erschließen. Aus diesem
Grund sind die Blickbewegungen sowohl beim Lesen von Texten, wie auch beim
Betrachten von Bildern ein Indikator für die visuelle Bildung des Betrachters, an der
man in Bezug auf den Kontext der Kommunikationssituation auch den Experten vom
Laien unterscheiden kann. Ein ziellos umherschweifender Blick ist meist ein
eindeutiger Indikator für die Überforderung oder Unterforderung des Lesers und
Betrachters.
Während sich unsere Augen im Bruchteil von Sekunden im Gebrauchsblickfeld
bewegen können, dauert die Hinwendung des Kopfes deutlich länger. Während wir
im peripheren Gesichtsfeld von etwa 180° zumindest mitbekommen, wenn etwas
passiert, nehmen wir die von unserem Standpunkt rückwärtige Hälfte einer
Panoramaprojektion überhaupt nicht wahr. Wenn sich hier etwas Bedeutsames
ereignet, muss das dem Betrachter über hinführende Bildbewegungen oder auditive
Signale kommuniziert werden, damit eine Kopfwendung eingeleitet werden kann.
Erst dann kann der Handlungsfaden weiterverfolgt oder angeknüpft werden. Bei 360°
Projektionen ist die Beachtung der verlängerten Reaktionszeit des Betrachters von
entscheidender Bedeutung. Nur wenn der Betrachter auch die Möglichkeit besitzt,
den Handlungsfaden zu verfolgen, wird er ein dauerhaftes Interesse am Geschehen
behalten und die Botschaft verstehen. Das große Informations- und Erlebnispotential
von 360° Projektionen kann sich daher nur dann vollständig entfalten, wenn sich bei
allen am Schöpfungsprozess Beteiligten Erfahrungswerte im praktischen Experiment
gebildet haben.

Was wir aus der Gestik der Augenbewegungen lernen können

Die Gestik der willkürlichen und unwillkürlichen Blickbewegungen unserer Zielgruppe bilden den Schlüssel zum Verständnis von 360° Projektionen, auf dem jegliche Konzeption und Umsetzung aufbauen sollte. Während unser Blick unwillkürlich von emotional bedeutsamen Inhalten der Projektionssituation angezogen wird, die auf unsere instinktiven Bedürfnisse zurückzuführen sind, können wir die willkürlichen Augenbewegungen ausschließlich über das Interesse des Betrachters an Form, Inhalt und Dramaturgie der Handlungssituation steuern. Sowohl beim Lesen, wie auch beim Betrachten von Dingen verweilen unsere Augen daher für etwa 50 Millisekunden auf den uns bereits erkennbaren bedeutsamen Zeichen, bevor sie zum nächsten Ereignis springen. Im Gebrauchsblickfeld von 40° können wir daher etwa 20 Orte pro Sekunde durch schnelle Fixationen erfassen, wobei sich die
Lesegeschwindigkeit bei schwer verständlichen Inhalten deutlich verlangsamt.
Ausschließlich in den Ruhephasen zwischen den sprunghaften sakkadischen
Blickbewegungen können wir bedeutsame Zeichen im Bildraum bewusst
wahrnehmen, da sich die Optik unserer Augen immer wieder neu auf das Ereignis
fixieren muss. Kürzere Zeiten als eine Sekunde pro Bild führen meist zu einer
völligen Unverständlichkeit der Inhalte, die unbewusst durchaus zu Reaktionen und
vagen Erinnerungen führen können. Schnell erfasst werden in der Regel Gesichter,
Hände und andere menschliche Körperteile sowie semantisch prägnante Formen,
Farben und Bewegungsmuster.
Die Planung von dynamischen Projektionen stellt bereits bei konventionellen
Bildformaten eine Herausforderung dar, da der Betrachter verunsichert, verwirrt und
schließlich verärgert reagiert, wenn zu viel gleichzeitig passiert. Diese Überforderung
lässt sich gut nachvollziehen, wenn die Lesegeschwindigkeit eines Textes
unverhältnismäßig gesteigert oder gar mehrere Bücher gleichzeitig rezitiert werden.
Steht ein Betrachter in der Kugelkalotte einer 360° Projektion, muss darüber hinaus
noch die extreme Verlängerung der Zeitspanne eingerechnet werden, die er für die
Drehung seines Kopfes und Körpers benötigt. Die simple Übertragung von Inhalten
von konventionellen Bildformaten in 360° Projektionen führt daher mit einiger
Sicherheit zu einer Überforderung des Betrachters und sollte daher prinzipiell an die
Rahmenbedingungen unserer Wahrnehmungsleistungen angepasst werden.

Wo die Grenze zwischen dem Realraum und der Immersion verläuft

360° Projektionen ermöglichen uns die Gestaltung von nahezu perfekten
Immersionen, da das gesamte Geschehen nicht auf einen kleinen Bildausschnitt
zusammengedrängt werden muss, sondern sich frei im gesamten Raum entfalten
kann. Für eine glaubhafte und emotional wirksame Immersion muss die
perspektivische Struktur der Bildprojektion in Bezug zum Standpunkt des Betrachters
gesetzt werden und dynamisch an seine Bewegungsmatrix angepasst werden. Die
perspektivische Struktur des gesamten Projektionsraums wird durch das dynamische
Verhältnis zwischen dem Betrachter, den betrachteten Ereignissen und der
Lichtquelle geregelt. Die Betrachterposition legt das Zentrum der perspektivischen
Struktur der fest. Jede Veränderung des eigenen Standpunktes in diesem
raumzeitlichen Ordnungssystem bringt eine neue Sichtweise auf den Gegenstand
der Betrachtung mit sich. Durch die Festschreibung unserer Perspektive vermitteln wir dem Betrachter unsere Sichtweise und geben ihm seine Leserichtung vor. Der
Verfasser eines anschaulichen Werkes bildet daher immer das Subjekt im
Gestaltungsprozess, welches dem Objekt seine Sichtweise für die Lösung der mit
dem Herstellungszweck verbundenen Problemstellung einbeschreibt. Im
Deutungsprozess hingegen wird der Betrachter über das Werk mit der Perspektive
des Gestalters konfrontiert und aufgefordert, sich dessen Ideenwelt zu erschließen.
360° Projektionen sind auf Grund der vielfältigen möglichen Betrachterstandpunkte
und Blickperspektiven extrem mehrdeutig und eröffnen uns hierdurch viele
Möglichkeiten zur Bildung eines eigenen Standpunktes, wie auch zur Hinterfragung
der eigenen Sichtweise.
Ist die Nachführung der perspektivischen Strukturen des gesamten Projektionsraums
nicht möglich, kann eine Immersion nur erreicht werden, wenn der Betrachter keinen
Horizont findet. Der Blick in den Weltraum, wie wir ihn in einem Planetarium erleben können, zeigt einen idealen immersiven Raum, da wir den Maßstab, die Proportionen, die Tiefen sowie die Körper- und Raumformen auf Grund der Entfernungen nicht mehr perspektivisch wahrnehmen. Ein Blick in den Himmel oder das Eintauchen unter eine Wasseroberfläche versetzt uns ebenfalls in Raumsituationen, bei denen uns der Horizont aus dem Gesichtsfeld gleitet und daher auch keine bedeutsame Bezugsgröße mehr bildet. Doch selbst wenn es uns gelingt, die perspektivische Strukturen einer 360° Projektion beständig an den Standpunkt des Betrachters anzupassen, gibt es eine physiologisch bedingte Grenze, die eine vollständige Immersion verhindert. Durch die Akkommodation der elastischen Linse unserer Augen an den notwendigen Brechungswinkel der Strahlungsvektoren, erhält das motorische Zentrum des Gehirns reale Tiefeninformationen. Hierdurch erfolgt die Anpassung der optischen Bedingungen im Augeninneren an den Abstand des
Betrachters zum fixierten Ziel. Die Entfernung zwischen Augpunkt und Blickpunkt
wird auf diese Weise ständig gemessen, wodurch unser Gehirn reale 3d-Daten erhält.
Die optischen Verhältnisse im Augkörper werden auf diese Weise konstant gehalten,
was wir bei einer Fotokamera reproduzieren, in dem wir die Bildschärfe dynamisch
nachführen. Die Anspannung des Ziliarmuskels führt zu einer Verkleinerung seines
Umfangs und der konzentrischen Verengung des Strahlenkörpers. Damit nimmt die
Brechkraft der Linse zu, weshalb es zu einer Nahakkommodation kommt. Die
Entspannung des Ziliarmuskels führt zur Fernakkommodation des entspannten
Linsenkörpers. Auf diese Weise wird es dem Gehirn auch möglich, eine
Größenkonstanz zu errechnen, nach der die Objekte in der Wahrnehmungssituation
ihre Ausdehnung nicht so stark verändern, wie es zum Beispiel bei der Verschiebung
einer Projektionsfläche zu einem Projektor beobachtet werden kann. Menschen,
Dinge und Räume weisen aus diesem Grund keine stürzenden Linien auf.
Bedeutsamere Objekte erscheinen uns größer und näher als der Kontext. In einer
360° Kuppel bleibt die Linsenkrümmung im Auge nahezu unverändert, da der
Abstand vom Betrachter zu allen räumlichen Ebenen der Bildprojektion konstant
bleibt. Dieser Sachverhalt lässt sich weder durch eine 3d-Brille, noch durch gezielte
Unschärfen, Bewegungsparallaxen, Verblassungen, Farbverschiebungen oder
perspektivische Verzerrungen vollständig aus der Welt schaffen. Selbst wenn man
von den hörbaren Grenzen des Projektionsraums absieht, die von der Raumakustik
erfasst werden, bleibt die fehlende Linsenkrümmung ein beständiger Indikator für die
Illusion. Genau hier zeigt sich eine Grenze zwischen dem Realraum und der von
einer 360° Projektion erreichbaren Immersion.

Warum braucht man nonlineare und interaktive Kommunikationstechniken

Bei konventionellen Bildformaten ist die Erzählstruktur zwangsläufig linear, da wir zu
jedem Zeitpunkt das gesamte Geschehen im Blickfeld behalten. Die lineare Struktur
erlaubt uns Schnitte, die durch Vor- und Rückblenden beliebig auf der Zeitachse
angeordnet werden können. Im Prinzip lesen wir diese Bilder wie die Seiten eines
Buches, auf denen der Autor an den Fluss der Worte gebunden ist. Unsere
Lebenswirklichkeit gleicht jedoch weder einem Buch, noch einem Bild, da wir uns
inmitten eines sphärischen Raums befinden, dessen Ereignisstruktur sich um uns
herum bis zum umlaufenden Panorama des Horizonts ausbreitet. Während unser
Blick bei Standardbildformaten immer wie von einem Fensterrahmen begrenzt bleibt,
befinden wir uns bei sphärischen 360° Projektionen inmitten einer weiten Landschaft,
über die sich der Himmel aufspannt. Aus dem Innenraum eines konventionellen
Bildes wird ein Landschaftsraum, der ganz andere Denk- und Handlungsstrategien
erfordert. Aus dem positiven Formprinzip, bei dem wir alle Dinge innerhalb der
Begrenzungen des Bildrahmens einstellen, wird ein Negativprinzip, bei dem der Betrachter die Wahl aus einer Vielzahl von Ereignissen besitzt.
Über 360° Projektionen können Botschaften in einer nonlinearen Form erzählt
werden, durch die sich das Verhältnis von Raum und Zeit grundlegend verändert.
Durch die panoramaartige Krümmung der Handlungsstruktur können Anfang und
Ende ineinander übergehen, was uns bildhafte Darstellungen von rekursiven
Prozessen und unendlichen Mannigfaltigkeiten ermöglicht. Auf der geschlossenen
Zeitachse lassen sich geschlossene Systeme generieren, deren
Veränderungsdynamiken der Betrachter in beiden Richtungen verfolgen kann. Da wir
von 360° Projektionen immer nur einen Ausschnitt wahrnehmen können, kann der
Betrachter diese ungewohnte Freiheit auf schöpferische Weise nutzen. Bekommt der
Betrachter die Möglichkeit zur Wahl zwischen verschiedenen Lesarten, kann er sich
aus einer Vielzahl von Angeboten seine eigene Geschichte konstruieren. Wie beim
nächtlichen Blick in den Sternenhimmel, der dem Menschen seit jeher mehrdeutige
Figurationen und damit multiple Lesarten anbietet, müssen wir uns für eine
Sichtweise entscheiden. Durch die Wahl unserer Bezugspunkte legen wir fest, ob wir
Vögel, Flugobjekte, Sternbilder, Satelliten- und Planetensysteme, Sternennebel,
Galaxien oder Universen zu Gesicht bekommen. Hierdurch eröffnen sich uns ganz
neue formale, inhaltliche und dramaturgische Möglichkeiten für die mediale
Gestaltung.
Der größte Fortschritt im Bereich der räumlich-visuellen Kommunikation besteht nach meiner Ansicht jedoch darin, dass der Betrachter selbst einen aktiven Teil jeder 360° Projektion bildet. Im Gegensatz zu konventionellen Medienformaten stehen wir nicht außerhalb, sondern inmitten des Bildraums, der uns zu jeder Zeit und von jedem
Standpunkt aus vollständig umgibt. Von unserer zentralen Position im
panoramaartigen Bildraum können wir zu jedem Ereignis Blickbeziehungen
herstellen und andere beenden, wodurch sich die Botschaft personalisiert. Durch
unser Rezeptionsverhalten knüpfen wir unsere eigenen assoziativen
Bedeutungsnetzwerke, die zu überraschend neuen Handlungen, Fragen und
Antworten führen können. Über 360° Projektionssysteme können wir den Bildraum
zum ersten Mal auf eine Weise organisieren, die der Funktionsweise unseres
Gehirns entspricht. Dazu muss der Betrachter wie im Realraum die Wahlfreiheit
besitzen, sich zwischen den simultan angebotenen Informationen zu entscheiden. Im
Realraum können wir in der Regel selbst wählen, welchen Weg wir einschlagen
wollen. Hierdurch kann jede Handlung einen unerwarteten Ausgang nehmen, durch
den wir zu neuen Zielen und innovativen Lösungen gelangen können. 360°
Projektionen vergrößern unsere Denk- und Handlungsfreiheit in dem Maß, wie sich
Abläufe durch Interaktionen und Wahlmöglichkeiten mitbestimmen und mitgestalten
lassen.

Wie 360° Projektionen Wissen schaffen und Wirklichkeit gestalten können

Die Umwelt selbst ist uns nicht vollständig erkennbar, weil sie die Ursache unserer
Gehirnentwicklung bildet. Unsere Wirklichkeitsvorstellungen erreichen ein hohes
Maß an Intersubjektivität und Funktionalität, da wir sie durch den Dialog mit der
Umwelt permanent zur Disposition stellen und hierdurch fortwährend aktualisieren.
Die Wirklichkeit unseres Lebensraums beschreibt daher den Teil der Umwelt, den wir
uns über die Bildung unserer Vorstellungskraft, unseres Wahrnehmungsvermögens
und unserer Gestaltungsfertigkeiten erschließen können. Jeder Lernerfolg gründet
sich auf die neuronale Vernetzung unseres anschaulich erworbenen Wissens nach
dem kausalen Prinzip von Ursache und Wirkung. Daher sehen wir zu jeder Zeit eine
zweckmäßig eingerichtete Welt, in der die Dinge tun, was wir von ihnen erwarten.
Tun sie das nicht, suchen wir nach den Gründen und korrigieren unsere Erwartungshaltung. Durch dieses Prinzip der Empirie schaffen wir auf anschauliche
Weise Wissen. Die sichtbaren Werke des Natur- und Kulturraums sind für uns daher
nicht einfach da, sondern sie erzählen uns von dem „unsichtbaren“ Wirken der Kräfte,
die wir für ihre Herstellung verantwortlich machen. Das Herstellungsprinzip vermittelt uns die Intentionalität eines Werkes, seinen Daseins- oder Gebrauchszweck.
Technische Innovationen bergen Veränderungen unserer Lebenswirklichkeit. Durch
sie können wir die Leistungsgrenzen unserer Sinnessysteme erweitern und aus
komplexen Umweltdaten Informationen generieren. Die kulturelle Evolution gründet
sich daher auf der Entwicklung von räumlichen Kommunikationssystemen. Genau
hierin liegt das Innovationspotential von 360° Projektionen für die sinnliche
Wahrnehmung, die gedankliche Vorstellung und die praktische Gestaltung unserer
Lebenswirklichkeit. Fehlt der Sichtkontakt zu einem anschaulich dargestellten
Sachverhalt, wird die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns stark herabgesetzt, da nun
nur noch die tatsächlich abrufbaren Gedächtnisinhalte für gedankliche Prozesse
genutzt werden können. Das Informationsdefizit können wir uns einfach
vergegenwärtigen, wenn wir einmal versuchen, uns das Aussehen der Menschen
vorzustellen, die wir jeden Tag zu Gesicht bekommen. Wer könnte spontan ein
Portrait dieser Menschen anfertigen? Durch intensive Übung überführen wir diese
Informationen in Gedächtnissysteme, auf die wir einfacher Zugriff haben. Doch die
Regel wird bleiben, dass wir die gesamte Umwelt als „anschaulichen
Gedächtnisspeicher“ nutzen. Unser Gehirn arbeitet effizient und passt sich den
Umweltbedingungen an. Warum sollte es Informationen und damit Speicherplatz
vorhalten, wenn diese um uns herum permanent zur Verfügung steht?
Im Gegensatz zu konventionellen Bildformaten müssen komplexe Sachverhalte bei
panoramaartigen Projektionen nicht zwangsläufig von der Bildfläche verschwinden.
Außerhalb des Blickfeldes bietet sich ein weiter Horizont, an dem sie präsent und mit
dem aktuellen Geschehen vernetzt bleiben können. Bei Bedarf kann sich der
Betrachter jederzeit erneut daran orientieren und anhand der sichtbaren
Vernetzungsstruktur weitaus anspruchsvollere Denk- und Handlungsprozesse
ausführen. Auf diese Weise lassen sich komplexe Zusammenhänge vereinfachen
und schrittweise erläutern, ohne dass der Gesamtzusammenhang verloren geht.
Vergangene Erklärungsschritte können bei Bedarf präsent bleiben. Zukünftige
Argumente oder multiple Lösungswege können im Vorfeld angekündigt werden.
Nicht zuletzt können Querverweise und Argumentationsstränge in viele Richtungen
rund um den Betrachter herum erfolgen, wodurch sich der Problemhorizont eines
komplexen Sachverhalts panoramaartig aufspannen und in mehrere sich
durchdringende Handlungsebenen zerlegen lässt. Man denke hier nur an das
analoge Modell der ausklappbaren Tafel, an der die Lösung eines schwierigen
mathematischen oder physikalischen Problems schrittweise erklärt und dennoch
jederzeit vollständig nachvollzogen werden kann. Unser Wissen ist immer komplex,
vielfältig und vorübergehend. Es ist nur dann nachhaltig wirksam, wenn wir es nicht
isoliert wahrnehmen, sondern durch möglichst viele Querverbindungen mit
vorhandenen Wissensstrukturen vernetzen.

Wie 360° Projektionen Raum für die schöpferische Kraft der Phantasie schaffen

Unsere Phantasie ist heute selbst in der Wissenschaft eine anerkannte Kompetenz,
da wir uns hierüber einen Denk- und Handlungsraum eröffnen, in dem wir frei von
den Beschränkungen der gültigen Konventionen und des abgesicherten Vorwissens
zu neuen Problemlösungen gelangen können. Der spekulative Charakter unserer
Phantasien kann anschließend durch empirische Methoden in eine abgesicherte
Form von Wissen überführt werden. Ist ein Gedanke erst einmal auf anschauliche Weise in die Welt gebracht, regt er uns zu immer neuen Spielen und Experimenten
an. Der „konventionsfreie“ Vorstellungsraum der Phantasie bildet daher die
Voraussetzung für jede kreative Methode der Problemlösung oder einfach für die
Fähigkeit zur Kreativität. 360° Projektionen bieten unserer Phantasie einen weiten
Raum, der hervorragend für Experimente geeignet ist. Mit Hilfe von dynamischen
Raummodellen und komplexen Vermittlungskonzepten lassen sich völlig neue
Wahrnehmungserlebnisse gestalten und Menschen in interaktive
Schöpfungsprozesse involvieren. Hierdurch intensiviert sich nicht nur das sinnliche
Erlebnis, sondern ebenso auch die Komplexität, Intensität und Nachhaltigkeit jeder
Botschaft. Aus diesem Grund reicht es nicht aus, bestehende Präsentations- und
Vermittlungskonzepte zu adaptieren. Über praktische Feldversuche im 360°
Projektionsraum lassen sich neue Kommunikationstechniken generieren, deren
Anwendungsmöglichkeiten wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Hier
verhält es sich nicht anders wie bei allen vorangegangenen technischen
Innovationen, die zuerst Veränderungen im Kommunikationsverhalten bewirkt haben,
bevor sich neue Anwendungsmöglichkeiten entwickeln konnten.
Der lateinische Begriff „phantasia“ führt uns zur wichtigsten Triebfeder des kulturellen
Fortschritts, dem Haben von Gedanken und Einfällen. Woher unsere Ideen für die
Lösung komplexer Problemzusammenhänge letztendlich kommen, können wir im
Vorfeld nicht wissen, da wir uns erst einmal über die Frage klar werden müssen.
Wenn wir die Fragestellung anschaulich darstellen können, ist die Lösung oft nur
noch eine Frage der Zeit. Genau deshalb müssen wir bedeutsame Einfälle und
Gedanken über die Tätigkeit unserer Phantasie erst einmal auf anschauliche Weise
zur Erscheinung bringen, wie es die griechische Sprachwurzel des Begriffs
„phantazestai“ aussagt. Albert Einstein hat diesen Zusammenhang wie folgt in Worte
gefasst: „Phantasie ist wichtiger als Wissen. Denn Wissen ist auf das begrenzt, was
wir bereits verstehen können.“ Sobald wir unseren Blick auf das panoramaartige
Geschehen innerhalb von 360° Projektionen richten, erlangen vielleicht gerade die
Dinge eine Bedeutung für unser Wissen, die wir nicht erwarten und daher auch nicht
voraussehen können. Es kommt daher vor allem darauf an, dass die Phantasie eines
Betrachters über neuartige Präsentationsstrategien angeregt wird. Das lässt sich vor
allem durch die Generierung von ungewöhnlichen Lebenswelten und
Problemdarstellungen erreichen, die Widersprüche, Zufälle und Mehrdeutigkeiten
provozieren. Erst dann wird sich der Betrachter selbst Fragen stellen und nach
Antworten suchen.
Das Erkenntnis- und Verständigungs- sowie Problemlösungs- und
Vermittlungspotential von 360° Projektionen eröffnet ein extrem spannendes
Forschungsfeld, von dem viele neue Einsichten in Grundlagen der visuellen
Wahrnehmung, Kommunikation und Gestaltung sowie innovative Anwendungen für
die Praxis zu erwarten sind.

Weiterführende Informationen zu diesen Überlegungen finden sich in meinem Buch
Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz – Neurobiologische Grundlagen für
die methodische Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und
Darstellung im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess
“.

Mein Buchbeitrag entstammt der Publikation „Fullspace-Projektion: Mit dem 360°lab zum Holodeck“ (Springer 2013), die als kostenfreie Volltextversion unter dem folgenden Link zu erhalten ist: https://www.researchgate.net/publication/321590678_Fullspace-Projektion_Mit_dem_360lab_zum_Holodeck