Aus der öffentlichen Lesung des Diplomgutachtens Januar 2009
Die bildnerische Kunst ist eine Sprache, durch die sich das Verhältnis von Mensch und Welt auf subjektive Weise immer wieder neu interpretieren lässt. Darüber hinaus kann sie auch zum Werkzeug werden, mit dem sich intuitiv oder gezielt Veränderungen in der Gesellschaft bewirken lassen. Als der Diplomand Matthias Ritzmann vor wenigen Monaten auszog, um in Glaucha atmosphärische Kulissen für ein ästhetisch anspruchsvolles Photoprojekt zu finden, wollte er sich die Spuren des Verfalls an Mensch und Raum nutzbar machen, um hierin eine authentische Handlung für eine Kriminalgeschichte zu inszenieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte niemand eine Vorstellung davon, was er bis zum heutigen Tag mit seiner Fotokamera, mit viel Courage, Kreativität und Unternehmungslust für das Quartier und die dort lebenden Menschen und nicht zuletzt auch für sich selbt erreicht hat.
„In Glaucha wohnt die Zukunft“ titelte vor wenigen Tagen die Bildzeitung, ein Katalysator und Manipulator von Meinungen, die sich nur insoweit mit Kunstprojekten beschäftigen, wie daraus die instinktiven Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen hervortreten. „Glauchaer lächeln für Glauchaer“ titelt der Saale Kurier und nimmt damit eine Stimmung auf, die sich nach der Ausstellung der Bilder von Matthias Ritzmann im Kiez rund um den Ausgangspunkt seiner Arbeit, dem Kiosk Pinguin, verbreitet hat. „Wir kannten uns hier alle und jetzt ist es wie tot. Meine Güte! Hier muss sich viel verändern!“ sagt eine alte Frau, die für einen Moment aus Ihrer rückgewandten nostalgischen Betrachtung der Vergangenheit aufwacht und sich selbst plötzlich als einen wichtigen Teil eines notwendigen Veränderungsprozesses begreift. „Ich wohn gerne hier, weil es bunt gemischt ist. Ich würd nicht so viel verändern.“ sagt gleich darauf ein junger Mann, der vermutlich nach Glaucha gezogen ist, weil es sich hier günstig und zentral wohnen lässt und weil etwas begonnen hat, das nun ganz offen zu Tage tritt. Eine neue Schicht Menschen eignet sich einen zentralen Stadtbezirk von Halle an, der im Prozess der Schrumpfung einen Großteil der angestammten Bevölkerung verloren hat. Die verbleibenden Menschen sind oft die, die nicht weg konnten, die sich zurückgelassen fühlen, auf dem Abstellgleis, weshalb sie auch vor dem Kontakt mit den neuen Bewohnern zurückschrecken, die kulturell anders sind, jünger, fremder, hoffnungsvoller und damit auch lebendiger. Wer aber nun kann die Sprache finden, die jeder versteht, kann Verbindungen zwischen Menschen schaffen, die grundlegend anders im Lebens stehen, eingeborenen Hallensern und über bürokratische Verteilungsmechanismen hineingeworfenen Ausländern, Alten und Jungen, Studenten und Langzeitarbeitslosen, Arbeitern und Intellektuellen, wenn nicht das Bild, das zeigt: „Wir alle haben eines gemeinsam, wir wohnen und leben hier zusammen, wir sind Glaucha.“
„Am Anfang war das Wort“, heißt es in einer tiefgründigen Betrachtung der menschlichen Erkenntnislust, doch am Anfang standen bei Matthias Ritzmann die Bilder, welche sowohl während des gesamten Prozesses sein Sprachmittel waren, wie sie am Ende auch das Konzept, die Form und den Inhalt seiner Diplomarbeit für alle sichtbar werden lassen. Immer wenn Matthias für die Erklärung seiner Gedanken und Ideen die Worte fehlten, was während der Diplomzeit recht häufig der Fall war, so brachte er mir Bilder, starke Bilder, die er zu Serien verknüpfte, um damit seinen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Und nicht selten zeigte ich ihm Bilder, wenn mir die Worte fehlten oder zu ungenau erschienen, um ihm meine Entgegnungen auf seine Arbeit zu vermitteln oder ihm Anregungen mit auf den Weg zu geben.
Der Bildraum ist sein originärer Sprach- und Schaffensraum, wo er Raumschichten präzise hervortreten oder verschwinden lässt, wo er formale Beziehungen aufspürt, erzeugt und gestaltet, indem er mit Atmosphären aus Farbe und Licht spielt und immer neuen Perspektiven zwischen Beobachter, Gegenstand und Lichtquelle zum Vorschein bringt. Die Untersicht auf die Menschen in seinen Bildern erhöht diese zugleich und lässt sie zu Helden des Alltags werden, deren Charakter über ihre äußere Erscheinung hinweg vor der Kulisse des Stadtviertels in den Vordergrund des Bildraums tritt. „Wer bin ich eigentlich jetzt und hier“, fragten sich die Abgebildeten bei der öffentlichen Ausstellung im Kiez, wie auch die anderen Betrachter durch die Bilder zur Reflexion ihrer eigenen Lebenssituation angeregt oder manchmal auch fast gezwungen werden. Seine Bilder provozieren, schmeicheln, betören oder verwirren, was durch die überlebensgroße Präsenz der dargestellten Menschen noch gesteigert wird, die in einem Kreis zusammenstehen, in dessen Mitte sich den ganzen Ausstellungstag über ein fruchtbarer Dialog entwickelt. So sind sie zugleich Auslöser, wie auch Bestandteil eines Kommunikationsprozesses, den man sich in so manchen Galerien vergeblich erhofft. Es wird gefühlt, gedacht und gesprochen durch die Bilder, nicht über den Verfasser, sondern über das, was sie für jeden einzelnen Betrachter zum Vorschein bringen.
Kunst geht uns alle etwas an! Von den Änfängen der Kulturgeschichte bis heute hat sie die Kraft gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken, wie sie parallel dazu auch immer die Weltsicht und Handlungsweise des Künstelers selbst transformiert. Die Zielrichtung der Arbeit von Matthias Ritzmann hat sich über die Arbeit am Diplom verändert. Sie ist über den künstlerisch gestalterischen Dialog mit den Menschen vor Ort, mit den Freunden im Kiosk Pinguin und mit der unerwartet starken emotionalen und inhaltlichen Reaktion der Öffentlichkeit auf seine Bilder reifer geworden, hat an Persönlichkeit und Kraft noch weiter gewonnen und weist ihm darüber hinaus einen guten und bedeutsamen Schaffensweg in die eigene künstlerisch gestalterische Praxis nach dem Studium.
Um seine engagierte und außergewöhnlich fruchtbare Arbeit angemessen zu würdigen hätte ich dem Diplomanden heute lieber ein sehr persönliches Bild als diese Worte mitgegeben. Doch dient letztendlich nicht jedes unserer Worte dazu, ein Bild in der Vorstellung der Zuhörer zu entwerfen, welches seine Räumlichkeit und Lebenswirklichkeit über die Kraft der jeweils wachgerufenen Assoziationen erhält? Bilder und Worte entwickeln ihre Wirkung in Zeit und Raum und so wird die Arbeit von Matthias Ritzmann Folgen haben, bei ihm selbst und vielen Betrachtern, die über den heutigen Tag weit hinausgehen.