Herr Prof. Buether, es gab Zeiten, in denen die wissenschaftliche Untersuchung der Farben die Großen unter den Gelehrten beschäftigten: Als Newton das Licht mit Linsen in einzelne Farben zerlegte und hinterher wieder zur anfänglichen Farblosigkeit zusammenfügte, stachelte das Goethe zur Farbenlehre an – warum ist das noch heute ein wichtiges Forschungsthema?
Axel Buether: Dieses Wechselspiel zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ist sogar noch älter. Newton war es, der das Problem zu einem solchen der Physik und Optik machte. Goethe betrachtete es eher psychologisch. Mit seiner sinnlich-sittlichen Farbenlehre hat er die Grundlage der Psychologie der Farben geschaffen, die noch heute für uns interessant ist. Und noch heute beschäftigt die Farbe alle wissenschaftlichen Bereiche von Chemie, Biologie und Physik bis Philosophie und Wahrnehmungspsychologie. Goethe lag, was Letztere betrifft, durchaus richtig. Farbe hat Bedeutung für alle Perspektiven des Menschseins. Sie macht Welt erfahrbar und zugänglich. Wir kommen ihr deshalb mit Mitteln der empirischen Wissenschaft, aber auch durch introspektive Betrachtung auf die Spur. Ein ewiges Problem bis heute ist die Frage, ob Farben sekundäre oder primäre Eigenschaften der Umwelt sind.
Die Naturwissenschaft sagt uns, dass Materie und Energie primäre Eigenschaften der Umwelt sind – und Farben sind eher nur im Gehirn auftretende Wellenlängen. Wichtig ist aber, dass die Farbe ein zentrales Medium zum Verstehen, Wahrnehmen und Gestalten darstellt. Sie hat damit die gleiche Bedeutung wie die Sprache. Anders gewendet, Farbe ist eine kulturell weiterentwickelte Bildersprache. Das heißt, wir bewohnen die Welt nicht mehr nur wie Tiere und Pflanzen, sondern gestalten unseren Kulturraum zudem durch visuelle Zeichensysteme. Nicht tastbare Formen, sondern die in großer Ferne erkennbaren farblichen Codierungen schaffen Orientierung im Stadtraum. Formen gleicher Farbe verschmelzen vor unseren Augen zu undefinierbaren Massen. Körper zeichnen sich erst dann vor ihrem Hintergrund ab und vermitteln uns Bedeutung, wenn sie farblich kontrastieren: Haben wir ein Gebäude, einen Eingang vor uns? Ist es ein öffentliches oder privates Gebäude? Was zunächst nur ein Farbsignal auf der Netzhaut ist, organisiert sich in Formen und Bewegungen, in Symbole, die wir erst über die Farbe wahrnehmen. Das Farbsehen ist also wichtiger für uns als alles Anfassen, Riechen oder Lecken. Für das Verständnis der hohen Bedeutung der Farbe für unsere Wahrnehmung war Goethe ein Pionier – die psychologische Seite seiner Farbenlehre ist sein Vermächtnis.
Heute, mehr als 300 Jahre nach Newtons Prismen-Experimenten, die Goethe wie reinste Licht-Folter vorkamen, sind wir weniger zimperlich. Wir nutzen moderne naturwissenschaftliche, z. B. neurowissenschaftliche Methoden. Wie und was erforscht man heute eigentlich mit diesen Mitteln?
Axel Buether: Die systematische Annäherung an die Farbwahrnehmung fing mit einem bestimmten Verständnis des Lichts an. Anfangs gab es die Vorstellung, wir hätten ein Abbild der Natur auf unserer Netzhaut – das ist widerlegt. Unsere Augen haben ein ganz kleines Zentrum, die Fovea Centralis, das wie ein Trichter aufgebaut ist. Darin konzentrieren sich die Sehzellen, insbesondere sämtliche Farbzapfen, von denen es die drei Sorten gibt – empfindlich für den Rot-, Grün- und Blauanteil. Und mit diesen, allein im Zentrum liegenden Farbzapfen sehen wir die Welt. Die Augen bewegen sich dazu die ganze Zeit. Und innerhalb von nur 2 Grad dieses Gesichtsfeldes können wir scharf und vollfarbig sehen. Insgesamt umfasst das Gesichtsfeld 180 Grad – dafür können wir unseren Nacken um 45 Grad drehen. Bewusst können wir 60 Grad wahrnehmen. Die Peripherie nehmen wir unbewusst und gefühlsmäßig wahr. Aber wenn wir dort etwas sehen wollen, müssen wir uns umdrehen. Wir sehen mit anderen Worten nur das, was uns interessiert – und hier werden die Farben wichtig. Wie wichtig sie sind, zeigt eines der Ergebnisse der jüngeren Forschung: Die Verfolgung von Datenströmen im Gehirn zeigt, dass von der Verarbeitung von Farbsignalen 60 % des Gehirns beansprucht werden.
Was bedeutet das eigentlich für Farbenblinde?
Axel Buether: Wer farbenblind ist, sieht deswegen nicht etwa nichts, sondern er hat nur ein Bild mit weniger Informationen. Zum Verständnis: Wir haben 6 Millionen Zapfen und 120 Millionen Stäbchen in der Netzhaut. Daraus leiten manche immer noch ab, Letztere seien wichtiger. Sie sind lichtempfindlich – aber am Tag kaum wichtig, nur in der Dämmerung und in der Nacht liefern sie Graustufen. Am Tag nutzen wir nur noch die Zapfen, die Stäbchen sind kaum noch aktiv. Reine „Schwarz-Weiß-Bilder“ gehören den Phasen der Dämmerung und Nacht an, wohingegen sich die Bilder des Tages aus vielen Millionen Farbtönen zusammensetzen. Weiß und Grau sehen wir, wenn alle drei Zapfentypen gleichermaßen erregt sind, weshalb wir am Tag stets farbig getönte Weiß-, Grautöne wahrnehmen. Der Eindruck von Schwarz entsteht durch die Abwesenheit von Licht oder das Fehlen von Aktivitäten in der Netzhaut unsrer Augen. Schwarz erscheinen uns die Körper, welche das Licht vollständig absorbieren. Die meisten Schwarztöne bilden sich durch starke Helligkeitskontraste, vor allem in den Schattenzonen von Körpern und Räumen. Die Zapfen des Farbenblinden können Farbsignale nicht empfangen oder weiterverarbeiten. Der farblose Raum verliert stark an Tiefe, Auflösung und Detailreichtum. Bei der Verrechnung des Verhältnisses der Wellenlängen Rot (lang), Grün (mittel), Blau (kurz) entsteht eine exponentiell erhöhte Raumauflösung, da jeder Pixelpunkt im Bild nicht nur durch Helligkeitsabstufungen, sondern zudem auch noch durch Buntfarben unterschieden werden kann. Aus dem Spektrum des Sonnen- oder Kunstlichts können so weit mehr Informationen abgeleitet werden – das ist die Farbe. Ganz ohne Farben könnten wir uns schlechter orientieren, Gegenstände sind weniger voneinander abgrenzbar – und auch die Möglichkeiten zur visuellen Kommunikation, zur Vermittlung von Gedanken und Emotionen und Identität verringern sich maßgeblich. Dafür ist die Farbe da: Orientierung, Identität, Bedeutungen und Emotionen erkennen, sich wohlfühlen in der Welt.
Für die Gestaltung von Räumen kann man demnach die Rolle der Farbe gar nicht überschätzen?
Axel Buether: Unser gesamtes Sehen mithilfe der 6 Millionen Zapfen basiert auf einer Mischung von Buntfarben und Grautönen in hunderttausendfachen Nuancen. Das hat in der Tat Konsequenzen für die Gestaltung unserer Umwelt. Selbst die bei Architekten vielfach zu beobachtende Beschränkung auf reines Weiß vermeidet nicht die Auseinandersetzung mit Farbe. Denn es gibt sehr viele erheblich voneinander abweichende, kalte bis warme Weißtöne. In einem Experiment haben wir einmal 60 verschiedene Weißtonnuancen unterschieden. Die Farbqualität entscheidet sich am Buntanteil, auch Glanz, Tiefe, Intensität und Struktur der Farbe spielen eine weit größere Rolle, als bisher angenommen. Es gibt immer farbliche Nuancen – und damit muss man sich bei der Raumgestaltung auseinandersetzen. Das gilt für alle zu kaufenden Farben und Leuchtmittel. Wandfarbe und Beleuchtung wirken zusammen auf den Wärmehaushalt des Menschen und können Wohlbefinden oder auch ein Frösteln im Raum bewirken. Diese Unterschiede können bis zu 4 Grad Celsius bedeuten. Mit warmen Farben und warmer Beleuchtung kann man also ohne Weiteres zu einer Ersparnis bei den Heizkosten beitragen.
Was gehört noch zu den Erkenntnissen, auf die man dank neurowissenschaftlicher Forschung in jüngerer Zeit gekommen ist?
Axel Buether: Wichtig ist die Erkenntnis, dass Farbe nicht nur Bildmedium ist, sondern direkt und unwillkürlich auf den Körper wirkt. Es verändert beispielsweise unsere Stoffwechselvorgänge und unsere Hormone. Das wird schon durch die Beobachtung plausibel, dass wir, wenn es morgens trübe ist, nicht in Schwung kommen und es uns an Motivation fehlt. Deshalb sollten wir übrigens auch in der dunkleren Jahreszeit tägliche Spaziergänge einplanen. Auch im Winter ist das Licht draußen mehrere Tausend mal stärker als drinnen. Sonnenlicht brauchen wir zur Motivation, für den Stoffwechsel und für den Appetit. Überall wo wir aktiv sind, wo wir essen und wo es um zwischenmenschliche Kommunikation geht, sollten wir direktes Sonnenlicht oder Kunstlicht mit einem sonnenähnlichen, also vollfarbigen Spektrum einsetzen. Sonnenlicht motiviert unseren Handlungsdrang. Zu wenig Tageslicht, wie auch Kunstlicht mit einem reduzierten Farbspektrum, verringert unsere Motivation, hemmt wichtige Körperfunktionen und Aktivitäten, fördert negative Stimmungen oder gar Depressionen. Farbe und Licht wirken unwillkürlich, automatisch und unbewusst auf unseren Körperzustand – wir müssen dafür nur die Bedingungen schaffen.
… gerade in Pflegeheimen?
Axel Buether: In Pflegeheimen können wir so dafür sorgen, dass wir erheblich mehr vom Lebensabend haben und länger und gesünder leben. Bei der Planung des Pflegeheims sollte man bezüglich Farb- und Lichtgestaltung nach der konkreten Raumnutzung differenzieren – hier ist das Briefing im Vorfeld sehr wichtig. Sport, Essen, Arbeiten, Kommunikation braucht Helligkeit. Rückzug und Gemütlichkeit verlangen anderes farbiges Licht. Es ist also nicht getan damit, einfach alles „hell und freundlich“ zu gestalten – wir brauchen auch kühlere oder dunklere Zonen.
Licht und Farbe sind gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille, schreiben Sie in Ihrem Buch „Farbe. Entwurfsgrundlagen, Planungsstrategien, visuelle Kommunikation“. Wie ist das Verhältnis zwischen den beiden – und was kann das praktisch für den Gestalter bedeuten?
Axel Buether: Die Lichtquelle – sei das die Sonne oder eine künstliche Quelle – sendet Licht aus, welches uns direkt oder als ambientes Licht erreicht. Teils fällt die Strahlung direkt auf unsere Augen – und es gibt die Strahlung, die von der Quelle auf Oberflächen fällt und teils absorbiert, teils reflektiert wird. Jetzt kommt das Gehirn ins Spiel und der Effekt der sogenannten Farbkonstanz: Es wird ein Weißabgleich vorgenommen – vom Weiß der Lichtquelle aus errechnet sich die Farbigkeit. Über die Oberflächen in der Umgebung entsteht auf diese Weise Körperfarbe, und über das direkt auf das Auge fallende Licht entsteht Lichtfarbe. Die Farben entstehen jetzt dadurch, dass ein Teil in Wärme umgewandelt wird – Schwarz absorbiert kein Licht. Und bei den Buntfarben wird ein Teil des Spektrums absorbiert und Grün, Rot und Blau in einem gewissen Verhältnis geschluckt und in Wärme umgewandelt wird. So entsteht z. B. das Grün der Pflanzen: Das kurz- und langwellige Licht wird gebraucht, das mittelwellige Licht wird nicht benötigt und reflektiert, wodurch uns Pflanzen grün erscheinen. Wir sehen also das Spektrum der Lichtenergie, was die Pflanze nicht verwerten kann. Wenn ich nun die Qualität des Lichts ändere, ändert sich automatisch auch die Qualität der Körperfarben: Alle Farben im Raum ändern sich. Durch warmweiße Leuchtmittel verschieben sich die Farben in den rötlichen Bereich. Bei neonkalten oder Energiespar-Leuchten verschieben sich die Farben in den blauen, kühlen Bereich. Licht und Farbe müssen daher immer zusammen gesehen werden. Sie sind tatsächlich zwei Seiten einer Medaille – oder anders formuliert: Farbe leuchtet, und Licht färbt.
Herr Buether, lassen Sie uns noch etwas stärker besprechen, welche Bedeutung Farben oder bestimmte Farbzusammenstellungen auf uns persönlich haben. Wir tragen offenbar so etwas wie eine Farbherkunft mit uns. Erben wir das Farbempfinden also quasi wie Glatzen und Leberflecken? Und wie äußert sich diese Farbherkunft – was ändert sie an der Wirkung von Farben?
Axel Buether: Jeder Mensch hat eine Farbheimat. Hintergrund dafür sind sicherlich genetische Anlagen – allerdings hat die eigentliche Bedeutung von Farben für uns, ob Farben uns wohl- oder unwohlfühlen lassen, eher mit unserem persönlichen Erleben zu tun. Die Farben unserer Kindheit, der Region, aus der wir stammen, die damit verbundene Natur etwa. Es spielt eine Rolle, ob wir zum Beispiel aus einem Tal mit langen Wintern kommen oder in der Stadt oder am Meer aufgewachsen sind. Daraus ergeben sich bestimmte Bedürfnisse, ein bestimmtes Freizeitverhalten. Man bevorzugt dann auch später die damit verbundenen Lichtstimmungen. Diese persönlichen Bedürfnisse nennen wir Farbpräferenzen. Sie spiegeln sich in unserer Kleidung, unseren Gebrauchsgegenständen, unseren Wohn- und Arbeitswelten. Wenn wir im Alter aus unserer gewachsenen Farbheimat gerissen werden, etwa durch einen Umzug von der Privatwohnung in ein Alters- oder Pflegeheim, fühlen wir uns fremd und unwohl, neigen stärker zu Depressionen und können Erkrankungen weniger entgegensetzen. Die Orientierung der Farbgestaltung an den Farbpräferenzen der Zielgruppe, zu der die Auswahl aller Materialien wie auch die Planung der Beleuchtung mit natürlichem und künstlichen Licht zählen, ist daher eine zentrale Aufgabe von Architektur und Innenarchitektur.
Das spricht für eine regional geprägte Gestaltung von Pflege und Senioreneinrichtungen …
Axel Buether: Ja. Es ist nicht egal, ob ein Pflegeheim in Hamburg oder in München steht. Wichtig ist auch hier zu prüfen, wer Räume nutzen soll, wo er herkommt und wie seine Farbheimat aussieht. Das ist vor allem dort wichtig, wo Senioren in fertig möblierte Räume ziehen, die man nicht ohne Weiteres anpassen kann. Auch wenn die Bewohner aus verschiedenen Gegenden kommen, ist es wichtig, auf diese Zusammenhänge Rücksicht zu nehmen. Das bedeutet nicht, in Folklore verhaftet zu bleiben. Die Aufgabe an eine progressive Architektur besteht hier darin, die Farbpräferenzen und Farbheimat der Zielgruppe zu erkennen und auf dieser Basis eine zeitgemäße Umgebung zu gestalten, in der sich alte und kranke Menschen wohlfühlen können. Zwischen Farbheimat und Moderne muss kein Widerspruch bestehen, wie viele hochgelobte und oft publizierte Bauwerke beweisen, bei denen das „Gestalten von Atmosphären“ im Mittelpunkt steht. Traditionelle Materialien wie Hölzer, Natursteine, Textilien oder mineralische Farbtöne können in neuer Form verbaut werden. Der Einsatz neuer Materialien kann zur Weiterentwicklung tradierter Farbensprachen genutzt werden. Die Farbheimat ist der Ausgangspunkt – der zeitgemäße Umgang damit die Herausforderung.
Link zum zweiten Teil des Interviews
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