Raumstrategie Szenografie und Atmosphärenforschung
Auszug aus dem Buchbeitrag „Die Sprache des Raums“, in: Architektur WAHRnehmen Hg. Abel/Rudolf, transcript Bielefeld 2018
Jede Veränderung unseres Körperzustandes wird von den emotionalen Zentren unseres Gehirns in Bruchteilen einer Sekunde unwillkürlich bewertet. Bis wir sehen, hören, tasten, schmecken oder riechen, worum es sich handelt, vergeht hingegen mehr als eine Sekunde, weshalb wir Räume immer in einer inneren Gestimmtheit wahrnehmen. Unsere emotionale Stimmung im Wahrnehmungsprozess spiegelt sich in der Atmosphäre der Raumsituation. Auf Grund unseres Einfühlungsvermögens wirken Räume auch dann noch auf den Menschen, wenn wir sie in Form von Bildern oder Filmen betrachten. Die Empathie nimmt mit der Immersion zu, weshalb uns Gemälde, Fotografien, Filme oder Rauminszenierungen oftmals mehr bewegen, als unsere Lebenswirklichkeit. Ein Gradmesser für die ästhetische Wirkung der Immersion (Eintauchen) ist die Faszination, die wir im Wahrnehmungsprozess einer Raumsituation erleben.
Stimmungen haben eine überlebenswichtige Funktion für den Menschen, da sie Reflexe, Triebe und Instinkte aktivieren und spontane Gefühlsreaktionen fördern:
- durch Angstgefühle vor Gefahren warnen und Fluchtreflexe aktivieren
- durch Appetit auf Nahrungsangebote hinweisen und Nahrungsaufnahme aktivieren
- durch Lust auf Arterhaltungsangebote aufmerksam machen und Verführungsstrategien aktivieren
- durch Aggressionen die Kampfbereitschaft stärken und Angriffsstrategien aktivieren
- durch Motivation Handlungsmotivation steigern und Aktivitäten aktivieren
- durch Müdigkeit Entspannung hervorrufen und Schlafbereitschaft aktivieren
- durch Vertrauen Freundlichkeit hervorrufen und Partnersuche aktivieren
- durch Schmerz Mitleid hervorrufen und Hilfeleistungen aktivieren
In der Regel haben Menschen ihre emotionalen Reaktionen soweit unter Kontrolle, dass sie spontane Handlungsreflexe unterdrücken können, was bei unwillkürlichen Gefühlsreaktionen jedoch weit weniger gelingt. Die emotionalen Wirkungen einer Raumsituation lassen sich daher recht gut an der Gestik und Mimik von Menschen ablesen. Fragt man nach, können Menschen ihre Stimmung zudem oft recht präzise zum Ausdruck bringen. Durch die atmosphärischen Wirkungen von Raumsituationen auf unsere emotionale Stimmung ist es unmöglich, eine Raumsituation unvoreingenommen und wertneutral wahrzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns in einem realen oder imaginierten Raum aufhalten. Worauf es ankommt, ist die suggestive Kraft der Bildwelten, Klangwelten, Geschichten oder Musik. Diese Erkenntnis nützt Architekten, Planern, Bauherrn, Investoren und anderen Planungsbeteiligten ganz konkret, wenn sie Wettbewerbsergebnisse verstehen und bewerten, Meinungsbildungsprozesse initiieren und moderieren oder Entscheidungen im Entwurfs- und Planungsprozess treffen und verantworten müssen. Die Atmosphäre eines Raumes prägt den ersten Eindruck, löst spontane Gefühlsreaktionen aus und beeinflusst das Werturteil, welches von rationalen Argumenten gestärkt, nur schwerlich revidiert werden kann.
Wir nehmen Raum mit allen Sinnen wahr, weshalb es für die Analyse der ästhetischen Wirkungen von Bedeutung ist, wie ein Raum aussieht, wie Farben und Licht erscheinen, wie er sich anfühlt, wie er klingt, riecht, schmeckt, sich verhält oder unsere Handlungen beeinflusst. Die Atmosphäre einer Raumsituation setzt sich aus allen sinnlich wahrnehmbaren Ereignissen zusammen. Unverständliche Geräusche, Töne, Klänge, Sprachfetzen, Musikfragmente, Gerüche, Farben, Licht, Reflexionen, Spiegelungen, Transparenzen, Bewegungen oder Berührungen werden in der Regel unbewusst verarbeitet. Wir nehmen sie nur dann wahr, wenn sie unsere Aufmerksamkeit erregen oder wir darauf achten. Auch wenn atmosphärische Merkmale fehlen, spüren wir die ungewohnte Leere sofort, da Räume plötzlich künstlich und befremdlich wirken. In der Filmproduktion werden Atmosphären daher mit großem Aufwand für jede einzelne Szene entworfen und produziert. Hierbei werden alle filmisch darstellbaren Ebenen der Raumwahrnehmung sorgfältig in Szene gesetzt bzw. inszeniert. In der Szenografie wird die Raumstrategie der atmosphärischen Inszenierung für die Gestaltung von Theateraufführungen, Ausstellungen, Messen oder Events eingesetzt. In der Szenografie werden Menschen, Objekte, Handlungen, Lichtstimmungen, Farbthemen, Sprache und Sound professionell entworfen und in Bezug auf die ästhetische Wirkung und inhaltliche Funktion des Ganzen in Szene gesetzt.
Im Städtebau und in der Architektur der Gegenwart werden die atmosphärischen Wirkungen häufig vernachlässigt. Das ist problematisch, da jeder Gang, jede Fahrt oder jeder Flug über Landschaften und Siedlungsräume starke atmosphärische Wirkungen auf den Menschen ausübt, die seine emotionale Stimmung prägen und sein Verhalten beeinflussen. Die atmosphärische Qualität von Plätzen, Straßen und Gebäuden steigt, wenn sie für die Handlungen von Menschen perspektivisch, dynamisch, haptisch, klanglich in Szene gesetzt wird, was bei der Stadtgestaltung und Architektur der Vormoderne sehr häufig beobachtet werden kann. Zum Klangbild historischer Stadträume gehören Menschen, die sich dort aufhalten, sich begegnen, arbeiten, streiten, vergnügen und austauschen. In den Sichtachsen und an den Eckpunkten wurden häufig besonders wichtige Gebäude angeordnet und durch Formung, Materialität und Oberflächengestaltung herausgehoben. Das ermöglicht einfache Orientierung und bildet Identität. Besonders wichtige Plätze wurden häufig durch Wasserspiele und Brunnen aufgewertet, die zentrale Elemente für die Menschen sind, ganz gleich ob sie sich dort aufhalten oder die dort versammelten Menschen in den Blick nehmen. Wir nehmen fließendes Wasser als Teil der Geräuschkulisse und haptisch spürbare Erfrischung wahr, auch wenn wir das kühle Nass nicht direkt am Körper spüren. Die Materialien historischer Plätze, Straßen und Wege wurden häufig aus dem Naturstein der Umgebung gefertigt, was regionale Identität vermittelt und zudem nachhaltig ist, da Naturmaterialien sehr langsam und in „Würde“ altern.
Dem gegenüber stehen heute häufig Infrastrukturen für den motorisierten Verkehr, dessen schmutzig graue übelriechende, vielfach geflickte Asphaltflächen weder Aufenthaltsqualität noch Identität erzeugen. Noch problematischer ist die Formung der Gebäude, die sich häufig vom lauten schmutzigen öffentlichen Verkehrsraum abwendet. Die im Raster angelegten schmucklosen ungegliederten Fassaden, die versteckten anonymen Eingangssituationen oder die von dicken Kunststoffrahmen gefassten kleinen Fensteröffnungen, die oft nur wenig Licht in winzige Innenräume lassen. Die visuelle Haptik historischer Fassaden wird oftmals von Putzflächen geprägt, die durch Texturen, mineralische Farbanstriche oder Ornamente und Wandmalereien gegliedert und personalisiert werden. Häuser, Quartiere, Städte erhalten hierdurch ihren Charakter und ihre Aufenthaltsqualität für den Menschen, ganz gleich ob es sich um Bewohner oder Besucher handelt. Beim Spaziergang durch historische und moderne Quartiere lassen sich die unterschiedlichen Raumstrategien und ihre Konsequenzen für den Menschen empirisch beobachten und systematisch auswerten. Die ästhetische Attraktivität von Städten, Quartieren und einzelnen Immobilien ist heute ein wichtiger Standortfaktor für Unternehmen und Arbeitnehmer, der soziale, kulturelle und wirtschaftliche Konsequenzen für jedes Gemeinwesen hat. Wir sollten daher beginnen, die Raumstrategie der Szenografie auf den Städtebau und die Architektur unserer Zeit anzuwenden, zumal es einzelne gelungene Beispiele bereits gibt. Eine Rückkehr zu tradierten Formensprachen wäre lediglich Zeichen mangelnden Willens, sich mit der Qualität menschlicher Raumwahrnehmung auseinanderzusetzen und die hieraus folgen Raumstrategien anzuwenden.
Bei der Raumstrategie Szenografie stehen die atmosphärischen Wirkungen aller wahrnehmbaren Raumsituationen auf die emotionale Stimmung und das Verhalten von Menschen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Menschen sollen in Situationen eintauchen und die präsentierten Inhalte sinnlich erleben. Durch die Kraft der Erlebnisse sollen sie motiviert und bewegt werden, etwas Bestimmtes zu tun und zu lernen. Die ästhetische Wirkung von Atmosphären kann den Wert von Ereignissen in Szene setzen, wie Auftaktfeiern großer Sportveranstaltungen oder das Auftreten wichtiger Machtinhaber in weltlichen oder geistlichen Kontext wie die Papstpredigt zu Ostern, die Haddsch in Mekka, Militärparaden oder Gipfeltreffen. Die Inszenierung von Ausstellungen und Museen dient primär Bildungszwecken, während Messeauftritte von Unternehmen einen wirtschaftlichen Nutzen verfolgen. Alle Wahrnehmungen sind assoziativ miteinander vernetzt und werden im Augenblick des Erlebens aktiviert.[1] Aus diesem Grund können Farben frisch wirken, Appetit anregen oder Übelkeit verursachen. Atmosphären wirken emotional, da sie unseren gesamten Körper auf das Raumerlebnis einstimmen, was sich auf Veränderungen des Hormonspiegels und Stoffwechselfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Appetit und Motivation auswirkt. Die Atmosphäre eines Raums bestimmt die Intensität und Qualität unseres Erlebens.[2] Licht, dass durch ein Fenster auf einen gut ausgewählten Leseplatz fällt, kann von größerer Bedeutung für die Raumwahrnehmung sein, als die Größe des Zimmers oder die Höhe der Decke. In der Raumwahrnehmung verschmilzt, was außerhalb von uns existiert mit dem, was wir in unserer Vorstellung oder durch unsere Handlungen daraus machen. Für den Menschen ist nichts einfach da, denn um etwas wahrnehmen zu können, es zu verstehen und zu begreifen, müssen wir uns die Bedeutungen und das Handlungspotenzial des Objekts oder Sachverhalts in zumeist aufwendigen wiederholten Explorationsvorgängen aneignen. Das führt uns zur diskursiven Analyse der sprachlichen Struktur des Raums.
[1] Axel Buether; Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz: Neurobiologische Grundlagen für die methodische Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess, Burg Giebichenstein 2010
[2] Gernot Böhme; Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Suhrkamp 2013
Vortrag an der Bauhaus Universität Weimar
in der Reihe Bauhaus Masters
Gabriel Dörner
Di, 20.11.18 19.00 Uhr Raum HP05
Van-de-Velde-Bau, Geschwister-Scholl-Straße 7