Die Herstellung von assoziativen Verknüpfungen zwischen den Farb- und Lichtzeichen der Erscheinungswelt und den hierdurch bezeichneten Bedeutungen stellt nur den ersten Schritt im Bildungsprozess der räumlich-visuellen Kompetenz dar. Würden wir es dabei belassen, wie es viele Theorien zur visuellen Wahrnehmung nahe legen, wären wir lediglich im Raum der Wortsprache denk- und handlungsfähig. Für das verbale, wie das anschauliche Denken und Handeln benötigen wir gleichermaßen eine Syntax, über deren Regeln wir sinnvolle Verbindungen zwischen den einzelnen bedeutsamen Zeichen knüpfen können. Durch die Fähigkeit zur Herstellung von sinnvollen Handlungszusammenhängen können wir uns in anschaulicher Form mit der Umwelt verständigen, Vorstellungen bilden und unseren Lebensraum danach gestalten.
Das Informationspotential einer Umweltsituation stellt uns nur einen verschwindend geringen Anteil des für die Interpretationsleistung notwendigen Wissens zur Verfügung. Sobald wir mehr sehen, als einen strukturierten „Teppich“ aus Farb- und Helligkeitsunterschieden, bewegen wir uns virtuell im eigenen Vorstellungsraum. Ohne unser anschauliches Wissen nehmen wir einen phänomenalen Raum wahr. Das Erleben und Verhalten von operierten blindgeborenen Menschen zeigt, wie sich dieser Erscheinungsraum in unserer Vorstellung allmählich strukturiert. Wir sehen immer mehr Zeichen, die auf Inhalte verweisen und Handlungszusammenhänge anzeigen.
Die Entwicklung der Sehfähigkeit gründet sich auf unsere anschauliche Wissensstruktur, die sich lebenslang den Anforderungen aus dem Verständigungsprozess mit der Umwelt anpasst. Dem anschaulichen Vorstellungsvermögen, welches uns die Übertragung von Wissen auf vergleichbare Situationen erlaubt, kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Die raumzeitliche, gestische, typologische, topologische, und perspektivische Strukturierung unseres anschaulichen Wissens erlaubt uns die Orientierung im Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozess. An den Aussagen von operierten blindgeborenen und erblindeten Menschen wird deutlich, dass die räumlich-visuelle Kompetenz in Wechselwirkung mit der Bildung eines anschaulichen Sprach- und Beschreibungssystems steht. Hierüber eröffnet sich uns ein unbegrenzter Freiraum für den Denk- und Handlungsprozess, den wir uns für die Erkenntnis und Gestaltung unserer Lebenswelt nutzbar machen können.