Führen wir den Blick entlang der Kontrastgrenzen aus Farbe und Licht, nehmen wir Formen und über deren Transformationen zugleich auch Bewegungen wahr. Der motorische Cortex sendet dabei Steuerungsanweisungen an die blickführenden Augenmuskeln, die den Impulsen an unsere Finger, Hände, Arme und Beine vergleichbar sind. Über die Analyse unserer Blickbewegungen allein können wir den „Aufbau der Tastwelt“ jedoch nicht erkennen. Unser Gehirn benötigt hierfür zugleich auch die Strukturinformationen der Netzhaut.

Evolutionsbiologisch betrachtet haben sich unsere Augen zu einem besonders leistungsfähigen „Hautareal“ entwickelt, das einen integralen Bestandteil unserer sensitiven Körperhülle bildet. Während uns die Hautareale des Körpers die Beschaffenheit der Tastmaterie über Druck-, Berührungs-, Vibrations-, Schmerz- und Temperaturempfindungen vermitteln, erlauben uns die Farb- und Lichtempfindungen der Augen einen weitaus schnelleren, ungefährlicheren und effizienteren „Kontakt“. Ein großer Teil der Oberflächen und Materialien wird uns über das Erregungsprofil der Netzhaut sichtbar, sobald wir dieses auf eine Referenz in der „Texturbibliothek“ unseres Anschauungsraums zurückführen können. Die Form- und Materialstruktur des Anschauungsraums bildet daher die Gedächtnisreferenz, über welche wir den Dingen ihre Plastizität, Temperatur, Festigkeit und Oberflächenbeschaffenheit ansehen können.

Die Voraussetzung für die Möglichkeit der „Blickberührung“ bildet die visuell-haptische Auseinandersetzung mit der Umwelt. Wo immer wir etwas berühren und zugleich betrachten, bilden sich assoziative Verknüpfungen in der Form- und Materialstruktur unseres Anschauungsraums. Dieser Wissenserwerb erfolgt weitgehend implizit, was für unsere Orientierung im Alltag zumeist ausreicht. Die Gestaltung unseres Lebensraums fordert dagegen die explizite Auseinandersetzung mit den haptisch-visuellen Wirkungen von Materialoberflächen, da wir uns die Gebrauchseigenschaften und den ästhetischen Wert aller Dinge maßgeblich über die „Blickberührung“ erschließen.

Publikation „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“