FARBE BILDET BEWUSSTSEIN

Erst durch die allseitige Betätigung des Verstandes, der Phantasie und der sinnlichen Anschauung entwickelt sich bei jedem Menschen ein Bewusstsein von seinen individuellen Möglichkeiten zur Mitgestaltung der eigenen Existenz in der soziokulturellen Umwelt. Gerade der ganzheitliche Ansatz des auf Alexander von Humboldt zurückgehenden Bildungsbegriffes erhält heute Unterstützung durch aktuelle Erkenntnisse aus der neuropsychologisch begründeten Lernforschung. Hierdurch erhält der Prozess der Bewusstseinsbildung eine zentrale Stellung im wissenschaftlichen Bildungsdiskurs und der pädagogischen Praxis. Aufmerksamkeit und Interesse bilden die Voraussetzung für bewusste Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen und gedankliche Überlegungen, wie auch für Bewertungen, Planungen und Konzepte. Der Begriff des Bewusstseins ist kein Abstraktum, da er sich ausschließlich über konkrete Inhalte beschreiben lässt, was unserem wichtigsten Sinnesmedium, der Farbe, eine zentrale Stellung zuweist.

FARBE BILDET HANDLUNGS- UND VERHALTENSMOTIVATION

Farben erscheinen uns atmosphärisch aufgelöst oder körperhaft materialisiert. Ihre formalen Eigenschaften lassen sich systemisch über Attribute, wie Helligkeit, Buntheit, Intensität, Sättigung, Temperatur, Transparenz und viele mehr beschreiben, während ihre inhaltlichen Eigenschaften über den Zeichenbezug geregelt werden. Danach prägen Farben unsere Erwartungen an die Materialität, den Geschmack, den Geruch, den Klang und das Verhalten der Dinge, deren Intentionalität unseren Handlungsspielraum beschreibt. Haben wir aus dem Wechselspiel der Sinne, des Verstandes und dem Gefühl erst einmal eine Grundvorstellung von unserer Lebenswelt entwickelt, können wir auch nicht mehr davon absehen, die dynamischen Farbkonfigurationen vor unseren Augen oder innerhalb unserer Phantasie als Handlungsträger zu betrachten. Farben sind Gesten, wo immer sie auf Verhaltenszustände verweisen. Nicht die Farbe an sich, sondern die Farbwechsel bilden den Ausgangspunkt unserer Interpretationsleistungen, auf deren Grundlage wir uns eine funktionierende Gedächtnisrepräsentation von der eigenen Existenz in der Umwelt bilden.

FARBE BILDET ORIENTIERUNG

Aktuelle Forschungsergebnisse der Neuropsychologie zeigen, dass der Mensch etwa 80% aller Informationen über das Sinnesmedium Farbe erhält, deren Verarbeitung die Gehirnleistungen zu etwa 60% in Anspruch nimmt. Sobald der Mensch die Augen öffnet, befindet er sich über 250 Millionen Sehzellen in einem permanenten Informationsaustausch mit der Umwelt. Nicht einmal 10% davon können das Spektrum des Lichtes in Farbsignale wandeln, doch konzentrieren sich diese im fovealen Zentrum der Netzhaut, über das wir unsere Augenbewegungen steuern. Wie die Spitze eines Fingers bewegen wir die Fovea über Farbflächen und deren Grenzen und zeichnen hieraus Buchstaben, Formen und Räume, deren Veränderungen uns als Bewegung erfahrbar werden. Farbe schafft Orientierung und steuert hierdurch unsere Aufmerksamkeit sowie das Interesse an dem unerschöpflichen Informationspotential der Umwelt, zu dem uns das Licht einen Zugang verschafft. Farben bilden das Informationsmedium für die Interpretationsleistungen, aus deren Gesamtheit sich jedes Individuum ein dynamisches Bild seiner Lebenswirklichkeit entwirft.

FARBE BILDET SPRACHE

Während die Lautsprache in all ihren Formen schon seit langem im Zentrum des Bildungsdiskurses steht, werden wir mit der Konferenz den Fokus auf den nonverbalen Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation legen, in der das Phänomen Farbe eine Schlüsselstellung besitzt. Nicht die Lautsprache bestimmt die Form der menschlichen Erfahrung und Erkenntnis, sondern die sinnlich spürbaren und erkennbaren Inhalte. Ohne einen anschaulichen Erfahrungshintergrund bleiben Worte inhaltsleer und zusammenhanglos. Der sichtbare Teil der Umwelt ist vollständig ausgefüllt mit Farben, deren Bedeutungshintergrund und Verknüpfungsstruktur die leistungsfähigste Erfahrungsmatrix sowie das größte »Wissenspotential« des Menschen darstellen. Allein diese Tatsache bietet Anlass und Aufforderung zugleich für eine auf Orientierung, Erkenntnis und Verständigung ausgerichtete Diskussion und Neubewertung des Phänomens Farbe im aktuellen Bildungsdiskurs. Wie kein anderes Sinnesmedium bestimmt die Farbe unser Erfahrungswissen und hierüber auch die Sinnstruktur der Wortsprache. Begriffe ohne Anschauungen sind leer.

FARBE BILDET IDENTITÄT

Jeder sehfähige Mensch erforscht mit dem ersten Öffnen der Augen das Erkenntnispotential der Farbe im Alltag. Bereits vor dem Spracherwerb beginnt das Kleinkind mit der Konstruktion seiner Vorstellungen von der eigenen Lebenswirklichkeit, die sich ihm in den Farben der Umgebung repräsentiert. Die anschaulichen Erfahrungen aus dem Prozess der multisensuellen Auseinandersetzung mit der Lebensumwelt prägen die Raumvorstellungen, das Orientierungsvermögen und die eigene Identität, die danach zeitlebens erweitert und aktualisiert werden. Wir sehen zu jeder Zeit ausschließlich das Ergebnis unserer Interpretationsleistungen, weshalb die Fortentwicklung unsres Welt- und Persönlichkeitsbildes einen lebenslangen Bildungsprozess erfordert. Farbe ist ein globales Verständigungsmedium, über das uns die Eigenheiten und Gemeinsamkeiten aller Kulturen sichtbar und erkennbar werden. Farbe erlaubt uns den nonverbalen Austausch und die Gestaltung von Ideen. Farbe verbindet.

FARBE BILDET BRÜCKEN

Die Kultur der Farbe verbindet Wissenschaft und Kunst, da sich das Medium in Abhängigkeit von der Perspektive gleichermaßen als Wellenlänge, Energiefrequenz, Informationspotential oder Gestaltungsmaterial betrachten lässt. Farbe ist das Grundmaterial der empirischen Beobachtung sowie der bildnerischen Kunst. Farbe entsteht im Gehirn und existiert ebenso außerhalb des menschlichen Bewusst-seins als Anschauungsform unserer natürlichen und soziokulturellen Lebenswelt. Farbe repräsentiert das anschauliche Gedächtnis der Menschheit und verbindet Ästhetik und Funktion. Farbe macht uns und anderen die innere Welt der Gedanken und Emotionen sichtbar und bildet hierdurch die wichtigste nonverbale Grundlage der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wir nutzen Farbe daher in allen Bereichen der Gesellschaft und setzen sie je nach Anforderung ein, um Prozesse zu erkennen, Probleme zu lösen und Inhalte zu vermitteln.

KONSEQUENZ

Die zentrale Frage der Konferenz lautet daher, wie wir uns das Verständigungs- und Erkenntnis sowie Problemlösungs- und Vermittlungspotential der Farbe für die ganzheitliche Bildung des menschlichen Individuums in jeder Phase seines Entwicklungsprozesses nutzbar machen können.

  1. Publikation in Phänomen Farbe, ISBN 978-3-00-036547-8
  2. Schrödel Kunstportal, Kreativkartei
  3. [download id=“19″ format=“2″]
  4. Color Forms… (English publication of the article)
  5. Link zum Magazin und download Artikel +report+ Chemie und angrenzende Naturwissenschaften