Kunst als Dialogprozess

Kunst im Spannungsfeld der Globalisierung

Warum muss das Schulfach Kunst um seinen Stellenwert in den Bildungssystemen Europas kämpfen? Wir sprechen von einer Zeiterscheinung, die sich nicht nur in Deutschland, sondern in allen Mitgliedsstaaten der EU an fehlender Akzeptanz und schrumpfenden Bildungsanteilen bemerkbar macht.1 Nach Einschätzung der OECD und der Europäischen Kommission, wie sie im Rahmen der PISA Studie mit weitreichenden Folgen für die Bildungspraxis der Länder getroffen wurde, besitzt Kunst nicht den gleichen Stellenwert für die erfolgreiche Partizipation des Menschen in modernen Gesellschaften wie die Kerndisziplinen Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften. Die Anforderungen an die Allgemeinbildung kommender Generationen werden heute von den Kräften der Globalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft geprägt. Das allgemeinbildende Schulfach Kunst wird davon nicht ausgenommen, weshalb ich mich in diesem Beitrag auf die erhebliche Bedeutung von Kernthemen künstlerischer Bildung konzentrieren möchte, deren Vermittlung für den Erfolg von Individuen in modernen Gesellschaften unverzichtbar ist.

Jeder junge Mensch muss bereits bei seinem Eintritt in die berufliche Qualifizierung eine Vielzahl kognitiver Leistungen nachweisen. Wenn wir die Schwerpunkte gegenwärtiger Bildungsreformen und PISA-Evaluationen in den Blick nehmen, beschränkt sich das im Wesentlichen auf wortsprachliche und analytische Kompetenzen. Nehmen wir hingegen die Forderungen der Unternehmen, Verbände und Stiftungen unserer Wirtschaft in den Blick, werden kreative, visuell-kommunikative, interkulturelle sowie soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten beim Berufseinstieg in gleichem Maße wertgeschätzt. Innovationsdenken gilt vielen dabei als Indikator für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft und Kernforderung an die Ausrichtung der Bildungspolitik.2 Die Verschiebung curricularer Anteile zugunsten von Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften entfernt sich daher nicht allein von den Zielen humanistischer Bildung für die Ganzheitlichkeit der Persönlichkeitsentwicklung, sondern ebenso auch von den Anforderungen unserer Wirtschaft.

Unternehmen suchen Mitarbeiter mit starker Persönlichkeit, die komplexe Sachverhalte, ungelöste Problemstellungen oder Chancen für zukünftige Entwicklungen wahrnehmen. Sie müssen komplexe Prozesse begreifen, oft auch visualisieren und anderen Mitarbeitern oder Kunden vermitteln, was Methodenkompetenz wie ‚Design Thinking‘, ein gut ausgebildetes anschauliches Vorstellungsvermögen sowie zeitgemäße mediale Darstellungsfertigkeiten erfordert. ‚Designerisches Denken‘ ist strategisches Innovationsdenken und eine kreative Form von Teamwork, das die gezielte Suche nach neuen zukunftsfähigen Produktideen und Unternehmensstrategien fördert. Nach den Anforderungen unseres Arbeitsmarktes sollen Menschen in hohem Maß teamfähig, kreativ und kritikfähig sein. Nicht zuletzt benötigen sie in einem globalen Markt große soziale Sensibilität und ein auf Wissen gegründetes Verständnis für interkulturelle Zusammenhänge. Diese kognitiven Leistungen müssen nach dem Stand der Gehirnforschung gleich Sprachen und Logik in möglichst frühen Stadien der Persönlichkeitsentwicklung angelegt werden, um eine spätere systematische Förderung zu ermöglichen. Wenn junge Menschen in der Phase ihrer Allgemeinbildung keinen schöpferischen Zugang zur geistigen und materiellen Kultur moderner Gesellschaften erwerben, können sie in vielen zukunftsrelevanten Ausbildungen, Studiengängen und Arbeitsprozessen nicht bestehen.

Nicht allein die in abendländischer Tradition verhafteten bürgerlichen Eliten, sondern alle Individuen unserer Gesellschaft partizipieren durch das Fach Kunst an Kulturtechniken, die sie zur kritischen, eigenverantwortlichen und produktiven Teilhabe an den soziokulturellen Errungenschaften moderner Gesellschaften befähigen. Wo bleibt die Bildungsgerechtigkeit, die Chancengleichheit? Was wird aus den steigenden Herausforderungen von Inklusion und Integration, wenn insbesondere bildungsferne und zugewanderte Menschen keinen Zugang zu kulturellen Praktiken, Theorien und Werten Europas finden? Was schafft mehr Respekt vor dem schöpferischen Potenzial von Menschen mit Migrationshintergrund, die heute bereits mehr als 20% der deutschen Bevölkerung ausmachen, als die künstlerische Auseinandersetzung mit den vielfältigen Kulturen unserer Welt?3

Zur Bewältigung der gewaltigen Herausforderungen bei den Themen Integration, Bildungsmobilität und Bildungsgerechtigkeit in unserem Land brauchen wir im Fach Kunst einen alltagsnahen und ganzheitlichen Bildungsansatz, der im Schulunterricht vermittelt und in gesellschaftlicher Praxis erprobt werden kann.4 Im Gegenzug muss die Kunstdidaktik auf die neuen Anforderungen reagieren und eine umfassende Reform des Faches in die Wege leiten, in der traditionell bewährte wie neue digitale Kulturtechniken ihren Platz finden. Das Fach Kunst braucht daher nicht weniger, sondern deutlich mehr Unterrichtsanteile, die auf Grundlage von Sachargumenten mit allen am Bildungsprozess beteiligten Verantwortungsträgern ausgehandelt werden müssen!

Nach meiner Auffassung müssen wir jeden jungen Menschen in die Lage versetzen, die kulturellen Errungenschaften moderner Gesellschaften bewusst wahrzunehmen, entsprechend ihrer Relevanz für die Gegenwart auszuwählen und einzuordnen, kritisch zu reflektieren, überzeugend und verständlich darzustellen, verantwortungsbewusst zu bewahren sowie zukunftsorientiert und kreativ zu gestalten. Die demokratische Form der Gestaltung moderner Gesellschaften gründet sich auf die Möglichkeit der Teilhabe aller Bürger an einen kritischen Dialogprozess, der in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern mit verbalen und anschaulichen Kommunikationstechniken auf Grundlage umfassender interkultureller Bildung geführt werden muss. Ohne interkulturelle Bildung wird es im Zeitalter von Globalisierung und Migration unmöglich sein, eine gemeinsame Vorstellung von Freiheit und Menschenwürde im Sinne der Aufklärung zu bewahren.

Kreativität als zentrale Aufgabe der Kunstdidaktik

Nach meiner Ansicht gibt es zwei weitere Kernargumente für die Dringlichkeit der Aufwertung, Ausdehnung und Neuorientierung des Unterrichtsfaches Kunst, die ich in diesem Abschnitt kurz skizzieren möchte. Die ständig wachsenden Felder der ‚Kultur- und Kreativwirtschaft‘ bilden den am schnellsten wachsenden Sektor der Weltwirtschaft. Kreativität gehört heute in nahezu allen beruflichen Handlungsfeldern zu den Schlüsselkompetenzen allseitig gebildeter Menschen, da viele Problemlösungen nicht allein durch analytische Methoden gefunden werden können. Jedes Individuum muss schon vor dem Einstieg in eine berufliche Qualifizierung lernen, Sachverhalte und Handlungsroutinen kritisch zu hinterfragen, unbekannte Lösungswege auch mit dem Wagnis des Scheiterns zu beschreiten und hierdurch gefundene Positionen argumentativ in diskursiven Prozessen zu behaupten.

Wir brauchen neue Lösungen für die ungelösten Probleme der Gegenwart, innovative Produkte und kreative Menschen in allen zukunftsrelevanten Berufsfeldern, insbesondere auch in denen der MINT-Qualifikationen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Jeder Mensch ist kreativ, doch vergleichbar mit den Anlagen zum logischen Denken kann sich das schöpferische Potenzial nur durch explizite Förderung entfalten. Die methodische Förderung der ‚Kernkompetenz Kreativität‘ sollte zu einer zentralen Aufgabe der Kunstdidaktik ausgebaut werden. Kreativitätstechniken und Methoden ihrer Anwendung könnten sowohl fachspezifisch als auch fächerübergreifend in ihrer Bedeutung für Kunst, Sprache und Wissenschaft vermittelt werden.

Nicht jeder Mensch wird ein Gestalter, auch wenn der Marktanteil der Kultur- und Kreativwirtschaft stetig wächst und heute einen maßgeblichen Beitrag zur Gesamtwirtschaft moderner Gesellschaften liefert. Mehr als 249.000 Unternehmen mit ca.1,59 Millionen beschäftigten Menschen setzen allein in Deutschland mehr als 145 Milliarden Euro mit der kreativen Gestaltung des Kulturraums um. Die Bruttowertschöpfung der Kultur- und Kreativwirtschaft liegt damit heute schon über den Zahlen der Chemischen Industrie und der Energiewirtschaft. Sie nähert sich der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Maschinenbaus und der Automobilindustrie, die ihre herausragende Stellung am Weltmarkt nicht zuletzt der Kreativität ihrer Mitarbeiter verdanken. In die Zahlen der Kultur- und Kreativwirtschaft sind die kreativen Köpfe der Industrie noch gar nicht eingerechnet, welche gemeinsam mit den wissenschaftlich-technologischen Fachkräften den globalen Erfolg moderner Produkte und Dienstleistungen ermöglichen. Kreativität kennzeichnet die Suche nach den Produkten, Produktionsmethoden, Gebäuden, Infrastrukturen, Dienstleistungen und Kommunikationstechniken der Zukunft, ein Wettbewerb, der weltweit über den Erfolg einer Volkswirtschaft und den Wohlstand der Gesellschaft entscheidet.

Die Kultur- und Kreativwirtschaft setzt sich aus verschiedenen Kernbereichen zusammen, deren Beschäftigungszahlen unterschiedlich starken Entwicklungsdynamiken unterliegen. Angeführt von der Software- und Games-Industrie, dem Pressemarkt, Werbemarkt und der Designwirtschaft folgen im Mittelfeld der Architekturmarkt, der Buchmarkt, die Filmwirtschaft und die Musikwirtschaft. Im hinteren Feld folgen die Rundfunkwirtschaft, der Markt für darstellende Künste und der Kunstmarkt. Natürlich sagt diese Statistik nichts über die Qualität der schöpferischen Leistungen aus. Doch wer kann heute bereits mit Sicherheit sagen, dass kreative Schöpfungen aus Grafik, Malerei und Plastik für kommende Generationen größere kulturgeschichtliche Relevanz besitzen als Städte, Gebäude, Möbel, Kleidung, Printmedien, Fotos, Filme, Autos, Flugzeuge, Computer, Smartphones oder Programme. Zudem nimmt das Auftragswerk in der freien Kunst eine zentrale Stellung ein, bei dem die Vorstellungen des Kunden, der Wettbewerbskommissionen, der Sammler oder Galeristen einen vergleichbaren Rahmen wie bei der angewandten Kunst vorgeben können.

Die Kunstdidaktik kann jungen Menschen eine kritisch-konstruktive Haltung zu den Auswirkungen globaler Konsummechanismen vermitteln, wenn sie aufzeigt, wie wir unsere Kreativität für einen verantwortungsvollen Umgang mit den begrenzten Ressourcen der Welt einsetzen können. ‚Design Thinking‘ und ‚Designethik‘ gehören zusammen, wenn Kreativstrategien im Kunstunterricht vermittelt werden, auch wenn das Letztere in Deutschland noch immer ein nahezu unentdecktes Forschungsfeld bildet.

Das Bildungspotenzial des Schulfaches Kunst

Das große Bildungspotenzial des Faches Kunst besteht in der Vielfalt ästhetisch kultureller Praktiken und deren Vernetzung mit allen anderen Denk- und Handlungsfeldern moderner Gesellschaften. Bildende, darstellende und angewandte Künste sind hier allesamt von Relevanz, da Kunstwerke, Designobjekte und Bauwerke gleichermaßen bilden, darstellen und nutzen. Die Ausstellung oder Sammlung eines Kunstwerkes schafft ebenso einen Anwendungszweck, wie das Bewohnen eines Hauses oder das Herstellen eines Gebrauchsgegenstandes. Den Beleg dafür liefern die eindrucksvollen Sammlungen kulturgeschichtlicher Museen aus aller Welt, in denen kaum ein Kunstwerk gezeigt wird, für das kein Gebrauchszweck angegeben werden kann. Kunst beinhaltet alle Praxisfelder künstlerischer Gestaltung, von Plastik, Malerei, Zeichnung und Grafik bis hin zu Kunsthandwerk, Design, Theater, Tanz, Film, Architektur, Städtebau und Mediengestaltung. Alle Bereiche moderner Gesellschaften sind heute so komplex gestaltet, dass eine erfolgreiche und sinnerfüllte Teilhabe nur möglich ist, wenn das Individuum ein Grundverständnis der mannigfaltigen Codierungen des Kulturraums erworben hat.

Daher wird es immer dringlicher, dass sich der Kunstunterricht mit den herausragenden Werken aller Gestaltungsdisziplinen, insbesondere mit deren ideengeschichtlichen, technologischen, sozialen, ökonomischen und kommunikativen Bedeutungen auseinandersetzt. Den tradierten Kernbereich ‚bildender Künste‘ formen Disziplinen wie Bildhauerei, Zeichnung, Malerei und Grafik, Kunsthandwerk und Baukunst, die heute sowohl in freien wie angewandten Formen praktiziert werden. Hinzu kommen andere historisch gewachsene Kulturpraktiken wie die textilen Künste, die Buchkunst, Schmuckkunst, aber auch neue zeitbasierte Künste wie Film, Video, Performance, Medienkunst, Konzeptkunst oder Szenisches Schreiben, die symbiotisch mit ‚darstellenden Künsten‘ wie dem Schauspiel, Theater und Tanz verknüpft sind. Aus der Baukunst sind die Disziplinen Architektur, Innenarchitektur, Landschaftsarchitektur, Städtebau, Konservierung und Restaurierung sowie Bauerhaltung und Denkmalpflege hervorgegangen.

Die von zunehmender Industrialisierung getriebene Moderne hat viele alte Handwerksberufe verdrängt und das Kunsthandwerk marginalisiert, während hunderte neuer Berufe im planerisch konzeptionellen sowie handwerklich ausführenden Bereich geschaffen wurden. Handwerksberufe und gestalterische Berufsausbildungen umfassen so unterschiedliche Tätigkeiten wie Produktgestalter, Gestalter für visuelles Marketing, Mediengestalter, Fotograf, Glasbildner, Raumausstatter, Goldschmied, Keramiker, Maler- und Lackierer, Steinmetz, Maurer, Restaurator oder Vergolder. Dem gegenüber stehen Designstudiengänge wie Industriedesign, Keramik- und Glasdesign, Spiel- und Lerndesign, Design audiovisueller Medien, Kommunikationsdesign, Modedesign, Textildesign, Bühnenbild, Kostümbild, Multimediadesign, VR-Design oder Gamedesign. Der Schwerpunkt gestalterischer Studiengänge liegt auf dem komplexen Entwerfen, während das Handwerk Fertigkeiten zur praktischen Umsetzung vermittelt. Der Kunstunterricht sollte aus beiden Praxisfeldern schöpfen, also kreative Ideenproduktion und Praktiken zu ihrer Umsetzung vermitteln. Wir können heute vieles, doch niemals alles vorausplanen, weshalb jede komplexe Gestaltungsaufgabe, wie das Herstellen von Gebäuden, Filmen oder Inszenierungen, auf das Zusammenwirken aller am Werk Beteiligten angewiesen ist. In einem komplexen kommunikativen Prozess entstehen Gesamtkunstwerke, an welchen eine Vielzahl von Beteiligten mit unterschiedlichen Aufgaben, Methoden und Inhalten in Teamarbeit zusammenwirken müssen. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten zum komplexen Gestalten bilden eine Schlüsselkompetenz, die nirgendwo besser als im Schulfach Kunst vermittelt werden kann.

Mit der Digitalisierung moderner Gesellschaften ist eine Vielzahl medialer Berufe entstanden, in denen die ‚Gestaltung von Kommunikation‘ praktiziert und theoretisch reflektiert wird. Studiengänge wie Druck- und Medientechnologie, Medieninformatik, Mobile Medien, Online-Medien-Management, Medienwirtschaft, Mediapublishing, Informationsdesign, Werbung und Marktkommunikation, Computer Science and Media, Crossmedia Publishing & Management, Medienmanagement oder Unternehmenskommunikation gründen sich auf grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten zur visuellen Kommunikation, auf ästhetische Wahrnehmung, bildnerische Vorstellungskraft und Darstellungsfertigkeiten in Schrift und Bild. Das theoretische Feld der Reflexion, Ordnung, Bewertung und Vermittlung künstlerischer Praxis reicht von der Kunstgeschichte über die Kunstpädagogik bis hin zu neuen Tätigkeitsfeldern wie Kunstmanagement, Kunst- und Kulturvermittlung oder Kulturjournalismus.

Der Kunstunterricht kann von den diversen beruflichen Handlungsfeldern gestalterischer Fachrichtungen in hohem Maße profitieren, wenn Praktiken und Theorien verschiedener Disziplinen nach Kriterien wie soziokulturelle Relevanz, Exemplarizität und Diversität ausgewählt und im Lehramtsstudium vermittelt werden. Die vielen Wege zur Kunst und zum Kunstverständnis zeigen, dass und wie wir in allen Gestaltungsdisziplinen unsere materielle und geistige Kultur bewahren und erneuern können. Kunstwerke aus allen gestalterischen Handlungsfeldern sind das Archiv kultureller Tradition, kultureller Bildung und Vorbild neuer kultureller Schöpfungen. Sie prägen unser Selbstverständnis, unseren Gemeinschaftssinn und unsere Identität. Ihre Methoden sind stets hochrelevant, hochproduktiv und Motor unseres kulturellen Fortschritts.

Konsequenzen für Lehrerbildung und Schulunterricht im Fach Kunst

Zeitgemäßer Kunstunterricht muss die Einheit aller Künste repräsentieren und zwar so, dass ein Querschnitt der gestalterischen Studiengänge unserer Hochschulen, Universitäten und Kunsthochschulen abgebildet wird. Ich selbst habe als Hochschullehrer den kontroversen Diskussionsprozess an der ‚Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle‘ miterlebt, welcher mit der Umbenennung des Titels einhergegangen ist. Am Ende stand fest, dass beide Fakultäten nicht mehr als ‚Hochschule für Kunst und Design‘, sondern einheitlich als Kunsthochschule wahrgenommen werden wollen. Unter dem Dach einer Kunsthochschule sind freie wie angewandte Künste vereint, was die gegenseitige Wahrnehmung sowie den schöpferischen Dialog in Theorie und Praxis fördert.

Dieser Ansatz ist nur mit einer Reform der Lehrerbildung zu realisieren, in deren Folge weit mehr Praxisdisziplinen als bisher Raum erhalten sollten. Zum Lehramtsstudium Kunst gehören nicht nur Grafik, Malerei und Bildhauerei, sondern ebenso zeitgenössische Praxisfelder aus Design, Architektur und Kunsthandwerk. Darüber hinaus bedarf es der Erweiterung aller fachübergreifenden Lehrgebiete wie Gestaltungsgrundlagen, Kreativität, manuelle und digitale Darstellungsmethoden, Wahrnehmungspsychologie, Kunstgeschichte, Kultursoziologie, Kulturphilosophie, Kulturwirtschaft und künstlerische Forschung.

Dieses Prinzip muss von den Verantwortungsträgern aus den Fachwissenschaften, den Fachdidaktiken und der Bildungspolitik unter Beteiligung der Lehrerinnen und Lehrer bestimmt und regelmäßig aktualisiert werden. Jedes andere Auswahlprinzip muss sich mit dem Vorwurf der Willkürlichkeit auseinandersetzen, der letztendlich den Mangel an gesellschaftlicher Akzeptanz begründet. Nach meiner Einschätzung ist das vor allem eine Frage des politischen Willens, der die strukturellen Defizite in der Lehrerbildung so schnell wie möglich beheben muss, damit sich das Fach Kunst den Anforderungen moderner Gesellschaften stellen kann.

Der Kunstunterricht kann den vielfältigen Anforderungen moderner Gesellschaften nur dann gerecht werden, wenn die dafür notwendigen Voraussetzungen an den Lernorten Universität, Kunsthochschule und Schule geschaffen werden. Die derzeitige Gliederung des Lehramtsstudienganges Kunst in 1/3 Bildungswissenschaften, 1/3 Erstfach und 1/3 Zweitfach ist ein historisches Relikt, das der Komplexität des Theorie- und Praxisfeldes an keiner Stelle mehr gerecht wird. In der Folge zeigt sich eine permanente Überforderung aller Lehrerinnen und -lehrer im Schulfach Kunst, die viele wichtige Inhalte heutiger Lehrpläne wie Gestaltung mit digitalen Medien oder Heranführung an Architektur und Design nicht mehr adäquat vermitteln können. Es reicht nicht, wenn wir die Lehrpläne des Schulfaches Kunst den Anforderungen moderner Gesellschaften anpassen, wir müssen auch Vermittlungskompetenz und Raum in der Lehrerbildung dafür schaffen! Die gesellschaftliche Akzeptanz aller Kunstlehrerinnen und -lehrer würde hierdurch zugleich erheblich steigen. Das Lehramtsstudium Kunst braucht das Vollfach, damit die hier beschriebenen und oft bereits in Lehrplänen verbindlich geforderten Inhalte und Kompetenzen auf fachdidaktischer und fachpraktischer Grundlage vermittelt werden können. Der schulische Kunstunterricht wiederum braucht nach meinem Dafürhalten von Anfang an den gleichen Zeitumfang wie das Fach Deutsch, wobei Blöcke von ganzen Tagen und Projektwochen gebildet werden müssen. Warum ich das Fach Deutsch als Referenz heranziehe, werde ich im nächsten Abschnitt darlegen.

Visuelle Kommunikation als zentrale Aufgabe der Kunstdidaktik

Neben der Kreativität braucht jedes Individuum in Schule und Beruf grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten zur ‚Visuellen Kommunikation‘. Diese anschauliche Form menschlicher Sprache schließt viele andere didaktische Ansätze wie ‚Visual literacy‘ oder ‚Bildkompetenz‘ ein. Die nach meiner Ansicht extrem problematische Reduktion der Inhalte und Methoden visueller Kommunikation auf die Aspekte Agitation, Propaganda, Werbung und Marketing, verstellt den Weg der Vermittlung ästhetisch kultureller Bildung im Sinne einer anschaulichen Sprachkompetenz. Bild- und Wortsprache stehen gemeinsam im Zentrum jeder Erfahrungsbildung, Informationsgestaltung und Wissensvermittlung, weshalb wir Fähigkeiten und Fertigkeiten zur visuellen Kommunikation analog zur Muttersprache verstehen und vermitteln müssen.

Alle Begriffe unserer Wortsprache bleiben inhaltsleer und ohne Sinnzusammenhang, wenn wir keine anschaulichen Vorstellungen damit assoziieren. Visuelle Kommunikation beinhaltet die Bildung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit, der Vorstellungskraft wie eine Vielzahl manueller und digitaler Darstellungsfertigkeiten. Visuelle Wahrnehmung ist eine Verständnisfähigkeit, die dem Zuhören oder Lesen der Wortsprache vergleichbar ist. Ein Betrachter erschließt sich den Sinn und die Bedeutung der Erscheinungswelt durch aktive Deutung und Interpretation, die ihm erst hierdurch in Form von Bildern, Objekten oder Räumen gegenübertritt. Die anschauliche Vorstellungskraft wiederum gründet sich auf ein Repertoire an bildnerischen Objekten und ihren Sinnbeziehungen, das wir analog zum Repertoire unserer Wortsprache über aktive Formen der Aneignung erwerben müssen.

Lesen und Deuten sind gleichermaßen die wichtigsten Formen unser Vorstellung, unseres Denkens und Schaffens. Die Vielzahl der anschaulichen Darstellungsfertigkeiten dienen uns nicht nur zu Illustration von Worten und Texten! Grafiken, Bilder und bildhafte Erzählungen sind eine eigene Sprache, deren Kenntnis in Theorie und Anwendungspraxis zur Informationsvisualisierung, Wissensvermittlung und Schaffung von Orientierung unverzichtbar ist. Wir bauen Städte, Gebäude und Objekte, schaffen Bilder, Plastiken und Filme, die uns zugleich vermitteln, wie wir sie lesen und gebrauchen sollen. Der gesamte Kulturraum funktioniert wie ein anschauliches Archiv soziokultureller Praktiken und Theorien, wenn wir gelernt haben, ihn solchermaßen zu deuten und zu gebrauchen.

Fähigkeiten und Fertigkeiten zur verbalen und visuellen Kommunikation bilden daher die Voraussetzung für eine erfolgreiche und verantwortungsbewusste Teilhabe an modernen Mediengesellschaften. Die bildnerische Form der Sprach- und Medienkompetenz ist ein Kernbereich der Kunst, weshalb Schülerinnen und Schüler im Schulfach Kunst von Beginn an, und weit mehr noch als bisher, anschaulich Lesen und Schreiben lernen müssen, womit zugleich auch die Vermittlung ästhetischer, kultureller und ethischer Werte einhergeht. Jeder Mensch sollte lernen, einfache wie komplexe Sachverhalte und Prozesse anschaulich darzustellen! Der Vermittlungsprozess sollte mit analogen Medien wie Skizze, Zeichnung, Grafik, Collage, Modell, Malerei, Tanz und Theater beginnen, später in Kombination mit digitalen Medien wie Fotografie, Film, Animation, Printmedien, App- und Webdesign weitergeführt werden.

Die anschauliche Form der Wahrnehmung, Abstraktion, Ordnung, Darstellung und Vermittlung von Information bildet einen Kernbestandteil moderner Wissensgesellschaften. Die stetig wachsende Bedeutung interaktiver Medien wie Webseiten, Applikationen und Internetplattformen dient nicht nur der Informationsvermittlung, sondern generiert zudem völlig neue soziale Praktiken, ökonomische Warenströme und kulturelle Aktivitäten. Der Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Interpretation und Veranschaulichung komplexer Erkenntnisse in Form von Skizzen, Zeichnungen, Illustrationen, Fotografien, Filmen, Prozessgrafiken, Funktionsschemata, Infografiken, Animationen und interaktiven Applikationen gehört heute zur Allgemeinbildung jedes Menschen! Die Voraussetzung zur Teilhabe an der Gestaltung moderner Gesellschaften kann auf Grund des großen Umfangs und des hohen Maßes an Komplexität nur durch einen umfassenden Bildungsprozess erworben werden.

Die Gestaltung des Kulturraums spiegelt den Dialogprozess zwischen Mensch und Umwelt, da jede Generation durch Anschauung lernt, sich dabei eigene Fragen stellt und nach zeitgemäßen Antworten zur Lösung individueller und gesellschaftlicher Probleme sucht. Das Betrachten eines Kunstwerks kann ebenso lehrreich sein, wie das Lesen eines Buches, wenn wir die Komplexität der Botschaft richtig deuten, ihren Wert kritisch beurteilen und unsere Resonanz in anschaulicher wie verbaler Form zum Ausdruck bringen können.

Um noch klarer zu machen, worauf ich in diesem Beitrag hinaus will, möchte ich ein kleines Gedankenspiel mit Ihnen machen. Was halten Sie von dieser Argumentation des allgemeinbildenden Unterrichtsfaches Kunst: „Der Kunstunterricht leistet einen wesentlichen Beitrag zur anschaulichen, künstlerischen und medialen Bildung der Schülerinnen und Schüler. Er macht sie vertraut mit den Formen anschaulicher Kommunikation und Kunst als Mittel der Welterfassung und Wirklichkeitsvermittlung, der zwischenmenschlichen Verständigung, der Analyse und Reflexion, aber auch der Problemlösung und kreativen Gestaltung.

Wenn Sie diesen Kurztext googeln, werden sie ihn mit wenigen Veränderungen unter „Leitgedanken zum Kompetenzerwerb, zentrale Aufgaben des Faches Deutsch“ finden.5 Ich habe darin nur die fett gesetzten fünf Worte ausgetauscht, welche den Zusammenhang und Unterschied zwischen den beiden primären Kommunikationsformen menschlicher Wahrnehmung, Vorstellung und Gestaltung belegen: „Der Deutschunterricht leistet einen wesentlichen Beitrag zur sprachlichen, literarischen und medialen Bildung der Schülerinnen und Schüler. Er macht sie vertraut mit Sprache und Literatur als Mittel der Welterfassung und Wirklichkeitsvermittlung, der zwischenmenschlichen Verständigung, der Analyse und Reflexion, aber auch der Problemlösung und kreativen Gestaltung.

Es gibt es fachspezifische Eigenheiten in der verbalen und anschaulichen Form unserer Sprachkompetenz, vor allem was die Geschichte, Repertoire, Methoden, Medien und Techniken betrifft. Wichtiger jedoch sind die Gemeinsamkeiten, da sich unser Vorstellen, Denken und Handeln erst an unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Verbalisierung und Veranschaulichung komplexer inhaltlicher Ideen und Prozesse zeigt. Darüber hinaus sind es Kompetenzen in Wort und Bild, welche über die Zukunft „digitaler Gesellschaften“ entscheiden.

Kunst ist allgegenwärtig und geht uns alle an

Von Eltern bekommt man häufig Sätze wie diesen zu hören: „Wozu braucht mein Kind Kunst, es soll doch kein Maler werden!“ Mathematiker, Schriftsteller oder Physiker soll das Kind vermutlich auch nicht werden, doch ähnlich wie in Politik und Bildungswissenschaften schätzen auch die meisten Eltern den Nutzen dieser Schulfächer für die Allgemeinbildung deutlich höher ein. Diese Tatsache ist besonders problematisch für die Akzeptanz des Schulfaches Kunst, da sich Bewertungen der Eltern sehr schnell auf Wertschätzung, Engagement und Lernerfolg der Kinder übertragen.

Kunst wird heute in weiten Teilen der Gesellschaft als Freizeitbeschäftigung bürgerlicher Eliten betrachtet, was ein existenzielles Problem für das gleichnamige Schulfach schafft. Die bildende Funktion der visuellen Wahrnehmung im Alltag oder selbstinitiierte ästhetische Lernprozesse wie die Gestaltung der eigenen Identität in sozialen Netzwerken werden von Lehrern wie Schülern viel zu selten als künstlerische Prozesse betrachtet. Dabei wenden die meisten Schülerinnen und Schüler für diese informellen Lernprozesse weit mehr Zeit auf und arbeiten sehr viel engagierter, als bei vielen Aufgaben im Kunstunterricht. Auch viele progressive Ansätze zur Erweiterung und Erneuerung der Kunstpraxis wie die Pop Art oder die Aktionskunst werden heute auf konventionelle Weise in musealer Form vermittelt und weniger als lebendige Mahnungen zur Notwendigkeit einer beständigen Revolution des Kunstbetriebs begriffen. Die etablierte und von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnte Rezeption von Kunst findet sich im Kulturteil bürgerlicher Zeitungen oder Kultursendungen, die fernab der Haupteinschaltzeiten zu sehen sind. Interesse an Kunst- und Kultursendungen, wie der anerkannten Kunst- und Kulturszene, zeigen 4–6% der Bevölkerung, wobei diese Zahlen nicht die Neugier auf zeitgenössische Kunst, sondern das Interesse an Kunst und Kultur im Allgemeinen belegen.6

Diese Zahlen müssen wir zur Kenntnis nehmen, da sie zwar nichts über den kulturellen Wert zeitgenössischer Kunst aussagen, wohl aber über deren Wertschätzung in großen Teilen der Bevölkerung. In den Massenmedien verschmilzt der Begriff Kunst mit den elitären Strukturen des Kunstmarkts, wo Name und Marktwert der Künstler die Gegenwartsbedeutung der meisten Kunstwerke prägen. Das Sammeln von Kunst verspricht die Zugehörigkeit zu einem elitären Klub.7 Herausragende Kunst definiert sich in den Augen vieler Menschen über den Preis, eine folgenschwere Fehleinschätzung, die viel über die Gesellschaft sagt, doch die Akzeptanz des Schulfaches in weiten Teilen der Gesellschaft aushöhlt. In der Logik des Kunstmarkts wird auch die Kunstgeschichte zu einer stilbildenden Show von Superstars, deren Werke wir konsumieren und deren Biografien wir bewundern. Das verstellt den Blick auf die vielen Kulturschaffenden der Gegenwart, die unentdeckt den Ideenreichtum moderner Gesellschaften produzieren und in alltäglichen oft prekären Situationen mitten unter uns leben. Begeben wir uns auf die Suche!

Die Bedeutung der Kunst für moderne Gesellschaften steht und fällt mit der Begriffsbestimmung, weshalb ich auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen in Didaktik, Theorie und Praxis der Gestaltung für einen erweiterten Kunstbegriff plädieren möchte. Wissenschaftler identifizieren sich mit ihrem Wissen und bezeichnen sich folgerichtig als Biologe, Physiker, Philosoph oder Soziologe. Künstler sollten sich mit ihrem Können identifizieren und sich als Maler, Zeichner, Regisseur und Architekt bezeichnen. Es ist ebenso paradox, zwischen einem Künstler und einem Designer zu unterscheiden, wie zwischen einem Wissenschaftler und einem Chemiker. Natürlich können wir über mehrere Ausdrucksformen verfügen und Werke in verschiedenen Fachdisziplinen schaffen, auch das ist in den Wissenschaften nicht selten der Fall und führt zu einer Aufzählung und Gewichtung der Professionen. Während in den naturwissenschaftlichen Lehramtsstudiengängen Inhalte und Methoden der Fachdisziplin vermittelt werden, müssen sich angehende Kunstlehrerinnen und -lehrer mit einem ungemein größeren Theorie- und Praxisfeld auseinandersetzen. Das Schulfach Kunst braucht die Reduktion auf das Wesentliche, die Ziele jeder Allgemeinbildung, die geistige, ethische und ästhetische Formung der Persönlichkeit.

Vielleicht beginnt der Weg zu einer zeitgemäßen Kunstdidaktik mit einer kurzen Rückbesinnung auf die Anfänge des Kunstunterrichts, da die Einführung eines neuen Schulfaches ein hohes Maß an Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft voraussetzt. Die Begründung eines allgemeinbildenden Schulfaches Kunst wurzelt im didaktischen Potenzial des Zeichnens. Während wir uns die ‚Wege zur Wissenschaft‘ über das Lesen und Schreiben eröffnen, können wir uns die ‚Wege zur Kunst‘ auf methodisch vergleichbare Weise über das Zeichnen erschließen, insofern dieses die Bildung unserer visuellen Wahrnehmungsfähigkeit beinhaltet. Das Zeichnen ist auch heute noch die Grundlage aller Künste, wenn wir es als anschauliche Form unserer Sprache begreifen und vermitteln. Das Zeichnen gehört neben der Wortsprache zu den wichtigsten Kulturtechniken des Menschen, da es mit der Erfassung von Phänomenen beginnt, sich mit der Entdeckung unserer Symbolwelt fortsetzt und über die Visualisierung von Wissen und Geschichten, Ideen und Konzepten sowie Konstruktionen und Fertigungsprozessen zu größter Komplexität findet. Unsere Zeichentechniken und Darstellungswerkzeuge haben sich in den letzten hundert Jahren extrem schnell weiterentwickelt und diversifiziert. Gezeichnet wird in jeder künstlerischen Disziplin, ob mit Stift, Pinsel, Modell, Körper, Kamera oder Computer-Interface. Viele Menschen können ihre Wahrnehmungen und Vorstellungen besser über zeichnerische Fertigkeiten zum Ausdruck bringen, als über die Mittel der Wortsprache. Die Didaktik des Zeichnens eröffnet uns damit neue Wege zur effektiveren Inklusion und Integration. Jeder Mensch sollte lernen, abstrakt und konkret zu zeichnen, zu skizzieren oder zu konstruieren, zu improvisieren oder zielgerichtet zu arbeiten, frei aus der Fantasie zu schöpfen oder präzise eine Vorlage zu reproduzieren, um hierdurch eigene Ideen, Konzepte und Prozesse zu visualisieren.

In der Arbeitswelt findet der Lernprozess seine Fortsetzung in den angewandten Zeichentechniken, die im weiten Sinne alle Berufsfelder. In meiner beruflichen Laufbahn musste ich lernen, als Steinmetz mit Hammer und Meißel plastische Formen ins Material zu zeichnen. Als Architekt habe ich gelernt, Ideen und Konzepte zu skizzieren, imaginative Räume grafisch zu visualisieren und Handlungsanweisungen für eine Vielzahl von Projektbeteiligten technisch zu zeichnen. Als Medienkünstler wiederum habe ich erfahren, wie man mit Licht zeichnen kann, um Menschen emotional zu bewegen, ihre Wahrnehmung zu verändern und ihnen neue Sichtweisen vertrauter Umwelten zu eröffnen. Als Hochschullehrer, Autor, Referent, Tagungsleiter und künstlerischer Leiter großer Ausstellungsprojekte schließlich muss ich meine Vorstellungen nahezu täglich für Experten und Laien skizzieren, wobei ich auf eine Vielzahl an Medien und Visualisierungstechniken zurückgreife. Jede Zeichentechnik hat ihre eigene Ästhetik, ihre technischen und materiellen Grenzen, ihr inhaltliches und formales Ausdruckspotenzial und ihre medienspezifische Gestaltungsmethodik. Die Praxis des Kunstunterrichts hat vielerorts bereits damit begonnen, die methodischen Potenziale des Zeichnens in seinen praxisbezogenen, medienspezifischen Ausformungen zu erkennen und zu nutzen.

Jeder Mensch ist ein Künstler, sobald wir uns dessen bewusst werden

Die Ästhetik ist ein Projekt der Aufklärung. Ihr Begründer Alexander Baumgarten sah darin die anschauliche Form unseres kognitiven Weltzugangs. Nach Immanuel Kant soll der aufgeklärte Mensch seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit entkommen, indem er den Mut findet, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Durch nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Reproduktion und Medienpräsenz ist Kunst heute zum Allgemeingut geworden. Alle Menschen sind zumindest potentielle Künstler, die durch eigene schöpferische Selbsttätigkeit und Bildung ihrer Wahrnehmung zur Mündigkeit und allseitigen Entfaltung ihrer Veranlagungen gelangen können. Kunst und Wissenschaft sind die beiden grundlegenden Formen unseres Weltzugangs. Genau hier findet sich die Wurzel der Kunstdidaktik. Kunst ist allgegenwärtig! Kunst geht uns alle an! Kunst ist dort, wo sich Menschen schöpferisch betätigen, wo im künstlerischen Prozess mit künstlerischen Mitteln am Werk gearbeitet wird! Was vom künstlerischen Prozess bleibt, zeigt sich an der kulturellen Bildung des Individuums wie am Werk, der ästhetischen Manifestation einer endlosen Suche, die immer wieder neue Fragen aufwirft, neue Antworten herausfordert und neue schöpferische Gestaltungsprozesse anregt. Die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Erscheinungsbild der alltäglichen Lebenswelt gehört ebenso in den Kunstunterricht, wie das Wissen um die herausragenden Werke der Kulturgeschichte. Durch die Offenlegung der Ideengeschichte erhalten die Werke der Vergangenheit ihre Relevanz für das Verständnis und die Gestaltung der Gegenwart.

Jeder Mensch betreibt eine Form von Kunstrezeption im Alltag, wenn wir die Auseinandersetzung mit der Gesamtheit unserer materiellen und geistigen Kultur in den Blick nehmen, also auch die Beschäftigung mit Kunsthandwerk, Design und Architektur. Ein Blick auf die Museumslandschaft und ihre Besuchszahlen belegt, dass die unter dem Erweiterten Kunstbegriff praktizierte Kunstrezeption bereits einen wichtigen Bildungsfaktor moderner Gesellschaften darstellt.7 Mehr als 110 Millionen Museumsbesuche werden pro Jahr allein in Deutschland registriert, wo die nach wie vor rasant wachsende Anzahl von inzwischen mehr als 6.000 Einrichtungen die gesamte Kulturlandschaft in Geschichte und Gegenwart repräsentiert. Das museale Interesse der Bevölkerung gilt der gesamten materiellen und geistigen Kultur der Menschheit, den sogenannten Kunstmuseen, wie den Museen für Volks- und Heimatkunde, Naturkunde, Naturwissenschaft, Technik, Architektur, angewandte Kunst, Kunsthandwerk, Film und Fotografie.

Neben der Aura des Originals werden oftmals erklärende Bilder, Texte, Grafiken und Filme zu Vermittlungszwecken eingesetzt. Die Wirkmacht der Museen gründet sich auf die ästhetische Überzeugungskraft der Exponate und die anschauliche Form der Wissensvermittlung, was jeder sofort erkennen kann, der sich mit geschlossenen Augen durch ein Museum führen lässt. Sprache bleibt inhaltsleer, wo uns die Anschauung fehlt. Die ästhetische Bildung unserer Wahrnehmung, das Wissen um historische Kontexte und die Vermittlung von kognitiven Fähigkeiten zur Deutung anschaulicher Artefakte sind Kernaufgaben des Kunstunterrichts. Dass die heutige Stundenanzahl im Kunstunterricht allgemeinbildender Schulen dafür kaum Raum lässt, darf kein Grund sein, diese Bildungslücke zu übersehen. Für wen sammeln, archivieren, pflegen und bewahren wir die Werke der Kultur? Warum bauen wir viele aufwendige Häuser zur Ausstellung von Kultur, in denen wir die Werke in Form thematischer Ausstellungen zusammenstellen und der Öffentlichkeit zu Bildungszwecken anbieten, wenn kaum jemand gelernt hat, sie zu deuten und für die Gestaltung der Gegenwart nutzbar zu machen?

Die größten anschaulichen Archive der Menschheitskultur finden sich nicht allein in den Museen, sondern in den Siedlungsräumen von Gesellschaften. Wir können ungemein viel von zeitgenössischen und historischen Artefakten wie Brücken, Bahnen, Gebäude, Straßen, Einrichtungs- und Gebrauchsgegenständen lernen, wenn wir es vermögen, das Erscheinungsbild im Kontext ihrer Ideen- und Entstehungsgeschichte zu deuten. Das UNESCO-Welterbe zählt viele Städte auf, die als kulturelle Artefakte erhalten und als Bildungsstätten besucht werden. Eine Stadt wie Venedig verzeichnet allein 30 Millionen Besucher pro Jahr, die informell oder ganz bewusst von diesem Gesamtkunstwerk profitieren. Nicht das einzelne Artefakt, sondern die Summe aller bedeutenden Kulturleistungen in ihrem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang vermittelt uns ein verständliches Bild von Gesellschaft, ganz gleich in welchen Teil der Welt wir uns umschauen. Wer wollte den Canale Grande von den Bauten und Plätzen Venedigs trennen, den Fassaden und Einrichtungen der Kirchen, Paläste und Bürgerhäuser, den Brücken und Transportmitteln, den Masken, Bekleidungen und Artefakten. Wichtiger noch als die Wahrnehmung von Artefakten ist die Analyse ihrer Stellung zueinander und zum Ganzen, aus der sich unsichtbare Gesellschaftsformen und ihre Praktiken rekonstruieren lassen. Der ästhetische Zugang zum Weltkulturerbe und Weltnaturerbe ist uns nicht angeboren, wie die barbarischen Akte der Kultur- und Naturzerstörung zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten dieser Welt immer wieder zeigen. Aufklärung können alle Schulfächer betreiben. Wertschätzung jedoch entsteht erst durch die Reflexion der eigenen Selbst- und Umweltwahrnehmung und die aktive Teilhabe am Schöpfungsprozess, was nirgendwo besser als im Kunstunterricht vermittelt werden kann!

Kunst ist die Form, in der sich Geschichte ereignet! Sie passiert heute und hier oder in anderen Teilen der Welt, die wir bereisen oder uns medial erschließen. Kunst ist immer aktuell! Kunst besitzt eine emotionale Überzeugungskraft, die Gesellschaften vereint, trennt, konstituiert und verändert! Wer ein Beispiel für die Aktualität und Wirkmacht der Kunst in dem von mir beschriebenen erweiterten Sinn braucht, schaue sich die Bilder ertrunkener Flüchtlingskinder an, die eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst und unsere so Welt nachhaltig verändert haben. Die Macht der Bilder entfaltet sich in den medienwirksamen Aktionen der Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘, deren Hass und Zerstörungswut sich gegen Jahrtausende alte Tempelanlagen sowie das freiheitliche Leben europäischer Zivilgesellschaften richtet. Die über Internet verbreiteten Bilder der Kulturvernichtung und Freiheitsbeschränkung erzeugen und vereinen den Widerstand von Menschen über alle Religionsgrenzen hinweg. Sie bilden einen Teil unseres kollektiven Bildgedächtnisses und werden zur anschaulichen Erzählung von Geschichte. Wo lernen wir den Respekt vor den Werken anderer Menschen und Kulturen, wenn nicht über die eigene Kunstpraxis, in der wir jeden kleinen Schritt bis zum eigenen Werk über große Anstrengungen und Wiederstände hinweg erkämpfen müssen, die uns zeitlebens im Gedächtnis bleiben. Und wo könnten wir dem Fühlen und Denken fremder Völker und Religionen wirksamer begegnen, Fremde, Migranten und Flüchtlinge besser verstehen lernen, als durch die Auseinandersetzung mit ihrer Kultur? Kunst wirkt integrativ, wenn wir gelernt haben, wie produktiv und bereichernd die Begegnung mit fremden Kulturformen für Gesellschaften gewesen ist und sein kann. Warum also frage ich am Ende meiner Ausführungen noch einmal, muss das Schulfach Kunst um seinen Stellenwert im Bildungssystem moderner Gesellschaften kämpfen?

Der gesamte Textbeitrag findet sich in der Publikation:

Aktuelle Positionen der Kunstdidaktik
Martina Ide, Christine Korte-Beuckers, Friedericke Rückert (Hrsg.)
ISBN/EAN: 9783867361538
kopaed 2016

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