Foto: Axel Buether

Der Kölner Dom als
Klangraum

Geistlicher Abend Emotion und Kontemplation

Datum und Ort: 10. Oktober 2017 (Di.) Kölner Dom

Musik
Prof. Dr. Winfried Bönig, Domorganist, Kölner Dom

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Vortrag Kölner Dom „Wahrnehmung von Raumatmosphären (Video Fridhelm Büchele)

Farbe, Licht, Klang, Wohlgeruch … Zur Wahrnehmung von Raumatmosphären

 

Über Atmosphärenforschung

Meine erste nachhaltige Begegnung mit den überwältigenden Wirkungen gebauter Atmosphären reicht mehr als dreißig Jahren zurück. Während und nach meiner Ausbildung zum Steinmetz und Steinbildhauer im Bereich Restauration durfte ich viel Zeit in sakralen Räumen verbringen. Heute arbeite ich als Forscher und Theoretiker im Bereich Raumwahrnehmung, als Lehrender im Bereich der räumlichen Kommunikation und Gestaltung sowie als Praktiker im Feld von Szenografie und Medienkunst.

Atmosphären aus farbigem Licht haben eine magische Wirkung auf den Menschen. Wir sind fasziniert von atmosphärischen Landschaften, von Meeren, Seen, Flüssen, Wüsten, Bergen und Wäldern, die uns erhaben und unfassbar schön unter dem Licht der Sonne erscheinen. Wir alle kennen faszinierende Naturereignisse wie das atmosphärische Glühen der auf- und untergehenden Sonne, ein erhabenes Lichtspektakel, das auf viele Menschen hypnotisierend wirkt. Emotional überwältigende Naturereignisse sind Teil unserer Sagen, Märchen und Legenden, sie speisen Mythen und sind Projektionsorte unserer Religionen.

Wir überlassen die Kraft von Atmosphären nicht allein dem Wirken der Natur. Die szenografische Gestaltung von Atmosphären ist ein lebendiger Teil unserer Kulturgeschichte und findet Anwendung in Sprache, Bild, Film, Animation, Theater und Architektur.

Unsere emotionale Stimmung im Wahrnehmungsprozess spiegelt sich in der Atmosphäre der Raumsituation. Daher nehmen wir Räume stets in einer inneren Gestimmtheit wahr. Sie befinden sich gerade in einem der größten Labore der Raumforschung, das Generationen vor uns in einer viele Jahrhunderte währenden Bauzeit errichtet haben. Die lange Experimentierphase, in der das Gebäude zahlreiche Transformationen erlebt hat, reicht bis in das 5. Jahrhundert zurück.

Das Geheimnis der magischen Wirkung atmosphärischer Räume offenbart sich uns durch die Erforschung unserer Wahrnehmung, eine introspektive Erkenntnismethode, die ich Ihnen in den nächsten Minuten kurz skizzieren möchte.

Mensch und Atmosphäre

Atmosphären bilden und verändern sich durch den Einfluss von Menschen. Durch unseren gemeinsamen Aufenthalt erzeugen wir untereinander einen sozialen Raum, der überall spürbar wird und auch den architektonischen Raum transformiert. Die Atmosphäre von Räumen wandelt sich, wenn wir sie individuell oder gemeinschaftlich erleben. Kathedralen sind gerichtete Räume, deren innere Ordnung durch die Bauform, die Anordnung der Artefakte sowie die Bewegungen und Aufenthalte von Menschen erzeugt wird.

In deren Atmosphären sakraler Räume verbinden sich die Wirkungen des Sichtbaren und Unsichtbaren. Im Bau einer Kathedrale materialisiert sich die Form der Liturgie und schafft einen sozialen Begegnungsraum. Sie schaffen Raum für geistliche Wirkungen wie den Gottesdienst, die Verehrung des Heiligen, den Empfang von Sakramenten und Sakramentalien, die den Wesensvollzug der Kirche ermöglichen und durch Fürbitte und Glauben erlangt werden.

Zentrales Mittel der Raumgestaltung ist die Szenografie, die Kreation von Atmosphären, die emotionale Stimmungen wie Ehrfurcht, Staunen, Freude, Furcht und Kontemplation fördern. Atmosphären wirken unwillkürlich auf unseren emotionalen Körperzustand, sie verändern unsere Gefühle und steuern unser Erleben, Denken und Verhalten.

Kathedralen sind machtvolle Instrumente zur Initiierung und Steuerung emotionaler Stimmungen und irrationaler Verhaltenszustände. Bei unserem Aufenthalt spüren wir ein starkes Gemeinschaftsgefühl, wir erleben uns als Gemeinde, die einander verantwortlich ist, gemeinsame Werte teilt und ihre Handlungen auf das Gemeinwohl verpflichtet. Wir öffnen uns unwillkürlich und nehmen Botschaften leichter an. Die Dramatik des Raums überträgt sich auf die Lebensäußerungen von Menschen, wodurch Worte, Bilder, Gesten und Musik an Bedeutung gewinnen und glaubhafter wirken.

Über den Atmosphärenwandel

Mit dem Wandel der Zeit transformiert sich die gesamte Atmosphäre des sinnlich erlebbaren Raums. Das lässt sich an konkrete Wirkungen nachvollziehen, die Sie bei einem längeren Aufenthalt in diesem Raum unmittelbar spüren können. Diese Wirkungen sind kein Zufall, sondern Ergebnis der Ikonografie und liturgischen Zweckbestimmung des Bauwerks.

Mit Einbruch der Dämmerung und während der Nacht dringt gelbgraues Mondlicht durch die hohen Fenster der Kathedrale. Das tiefe Schwarz der höhlenhaften Umgebung wirkt in diesen Stunden immateriell und bedrohlich nah. Wenn wir aus dem Dunkel in einen zerteilten Nachthimmel schauen, ergreifen uns Gefühle wie Angst, Verlust und Einsamkeit. Wo ein warmer Lichtschein leuchtet, bilden sich Inseln der Hoffnung, Sicherheit und Gemeinschaft.

Mit dem Sonnenaufgang ergießt sich das von unzähligen feingliedrigen Glasfragmenten farbig gebrochene Licht durch die Öffnungen der Fenster und bereitet die Bühne für einen Schöpfungsakt. In der Metaphysik sprechen wir von Emanation, wenn etwas aus seinem Ursprung hervorgeht, also Licht zu Geist bzw. Vorstellung wird. Das farbige Licht lässt vor unseren Augen steinerne Oberflächen von Boden und Wänden, von Säulen, Pfeilern, Bögen, Altären und Skulpturen auferstehen. Es malt immer neue Materialien wie die hölzernen Oberflächen der Einbauten, deren fassbare Maßstäblichkeit zwischen Mensch und Umwelt vermittelt. Die Kathedrale erwacht zum Leben und wird zum Teil des gelebten Raums.

Die Dramaturgie des Lichts wird vom Verlauf der Sonne, von Jahreszeiten und Wettererscheinungen bestimmt. Die einfallenden Lichtstrahlen, welche über die Fensteröffnungen eingelassen, abgeblendet, gerichtet, gestreut und farbig verpixelt werden, erwecken den Innenraum zum Leben und setzen die Inhalte wirkungsvoll in Szene. Die Choreografie des Lichts bezeichnet uns die wichtigsten Blickpunkte des Raums. Das Zentrum des Chorhauptes funktioniert wie eine Bühne, auf denen Menschen und Objekte mittels Gegenlicht, Streiflicht, Seitenlicht und Frontlicht wirkungsvoll in Szene gesetzt werden.

Schon beim Eintreten umfängt uns die lichterfüllte Atmosphäre des gewaltigen Bauwerks und bemächtigt sich unserem Körper und Geist. Wir verlangsamen unsere Bewegungen, kommen zur Ruhe und finden uns selbst als winzigen Teil in einem gewaltigen Kosmos wieder, dessen Bestandteile sich perspektivisch auf unsere Blickachse ausrichten. Wir befinden uns immer im Zentrum unserer Wahrnehmung und stehen mit allen Menschen und Artefakten im Dialog, während wir uns durch die kaum fassbare Ausdehnung des gewaltigen Raums winzig klein fühlen. In diesem Bau versinnbildlicht und verleiblicht sich das Verhältnis von Mensch und Welt.

Mit zunehmendem Licht erscheinen auch die grafischen Oberflächen von Bildnissen und Schriften, welche ikonografisch codierte Geschichten erzählen und die Maximen ihrer Schöpfer vermitteln. Sinn und Bedeutung der Artefakte erschließen sich uns nicht allein durch Introspektion. Dazu müssen wir unsere Wahrnehmungen gedanklich reflektieren, was jedoch ein hohes Maß an kultureller Bildung und Expertenwissen erfordert.

Der phänomenale Charakter des Gesamtkunstwerks hingegen offenbart sich uns im Vorgang der Wahrnehmung, sobald wir die Wirkungen des Raums in der Zeit auf Körper und Geist erleben. Dies ermöglicht jedem Menschen eine leibliche Form des Verstehens, die Unabhängig von Bildung, Herkunft und Kultur funktioniert. Nicht zuletzt deshalb ist der Kölner Dom ein weltweit bekannter Touristenmagnet und mit jährlich 6 Mill. Besuchern das meistbesuchte Kulturdenkmal Deutschlands.

Wahrnehmung von Atmosphären

Wir nehmen Atmosphären mit allen Sinnen wahr. Atmosphären wirken auf unseren Körperzustand und Stoffwechsel, veranlassen Hormonausschüttungen, verursachen Emotionen und Gefühle und beeinflussen über Assoziationen unsere Gedanken. Dabei bleiben mehr als 99% aller Sinnesinformationen unbewusst. Wir nehmen sie nur dann wahr, wenn sie unsere Aufmerksamkeit erregen oder wir gezielt darauf achten.

Unser gesamter Lebensraum funktioniert wie eine Sprache, deren Zeichen zugleich die Objekte unserer leiblich-sinnlichen Wahrnehmung sind. Im lateinischen Ursprung des Wahrnehmungsbegriffes „percipere“ steckt die Handlung des Nehmens und Empfangens. Bevor wir etwas „für-wahr-nehmen“, müssen wir es zuerst aktiv mit Hilfe unserer Sinne erforschen, müssen es Ansehen, Nehmen, Fassen, Greifen, Tasten, Legen, Stellen, Transformieren, Bewegen, Fühlen, Riechen oder Schmecken. Die Qualität dieser Erfahrungen bestimmt, was wir verstehen, begreifen und wie wir das Erlebnis bewerten.

Wir unterscheiden sinnesspezifische Erfahrungsräume wie den Anschauungsraum, den Hörraum oder den Tastraum. Der Anschauungsraum ist unser wichtigster Sinnesraum, da wir uns hierüber informieren, uns daran orientieren, unser Verhalten und unsere Handlungen auf seine Erscheinungsformen ausrichten. Der Anschauungsraum zeigt uns was da ist und was fehlt. Er führt uns vor Augen, wo etwas ist, mit was etwas in Beziehung steht und wie es sich verhält. Er richtet unsere Blicke, Haltung und Bewegungen, was an den Wirkungen der Zentralperspektive eindrucksvoll erlebbar und erkennbar wird.

Verändern wir den Bau der Augen, die Struktur der Sehzellen oder die Verarbeitung der visuellen Daten, erscheint eine völlig andere Welt. Andere Lebewesen überblicken ihre Umwelt in einem Panorama von 360°, sie orientieren sich an Strukturen aus ultraviolettem Licht oder ziehen ihre Bahnen entlang der Magnetfelder unserer Erde. Der Anschauungsraum bildet unsere spezifisch menschliche Form der Weltbegegnung.

Seine perspektivische Struktur macht uns zum Subjekt der Wahrnehmung und rückt uns ins Zentrum des umgebenden Raums. Sobald wir in diese perspektivische Ordnung eingreifen, etwa in dem wir eine Figur durch Veränderung ihrer Größenrelation hervorheben, wächst ihre Bedeutung. Der Größenkontrast wird in den Künsten aller Kulturen häufig genutzt und lässt sich auch in diesem Raum sehr gut beobachten.

Über dem Horizont, der stets auf Höhe unserer Augen liegt, wölbt sich das von vielen Fenstern erhellte Strebwerk der Kathedrale. Wo wir in freier Natur den Himmelsraum wahrnehmen, erstreckt sich hier das Sinnbild des Paradieses. Mit diesem irdischen Paradies wird die Anwesenheit einer höheren Macht zelebriert, die einen Ort für ihr Dasein auf Erden erhält und zum transzendenten Bestandteil der versammelten Gemeinschaft wird. Wir spüren eine Präsenz in der Leere, zu der wir aufschauen und an die wir uns mit unseren Problemen, Bitten und Sehnsüchten wenden können. Ob gläubig oder nicht. Die sakrale Atmosphäre des Gewölbehimmels bietet jedem Menschen einen Ort für spirituelle Erfahrungen und kontemplative Versenkung.

Schlussimpuls

In meiner Promotionszeit habe ich viele Spaziergänge mit blinden Menschen unternommen und den Beschreibungen ihrer Wahrnehmungen gelauscht. Geburtsblinde Menschen leben in einer anderen Form von Lebenswirklichkeit. Diese nichtvisuellen Sinnesräume sind auch für sehfähige Menschen da, doch wir müssen uns erst einmal dafür öffnen, ihnen Aufmerksamkeit und Interesse schenken und sie wahrnehmen und verstehen lernen.

Sobald wir die Augen schließen, tritt der Hörraum in den Vordergrund der Wahrnehmung, welcher durch auditive Medien wie Stimmen und Klänge, Worte, Geräusche und Musik gebildet wird. Wenn Stimmen und Musik den Raum erfüllen, können wir seine Ausdehnung bis an die Schallgrenzen verfolgen und seine Tongestalt wahrnehmen. Sie können die Probe machen, wenn sie beim nächsten Erklingen von Musik die Augen geschlossen halten.

Vielleicht unternehmen Sie zu günstiger Zeit auch einmal einen begleiteten Spaziergang mit verbundenen Augen. Sie werden einen unsichtbaren Raum entdecken, der sich aus Berührungen von Formen und Oberflächen, aus Gerüchen von Baumaterialien und Körpern, aus Stimmen, Geräuschen und Klängen zusammensetzt. Sie werden eigenleiblich erfahren, welche Bedeutung ritualisierte Sinneserlebnisse wie Umarmungen von Nachbarn, Singen von Liedern, Verbrennen von Weihrauch oder Trinken von Wein entwickeln.