Warum sind die goldenen Mosaiksteinchen im Markusdom Venedig allesamt schief eingesetzt?

Interaktionen von Farben und Licht

Beobachtung einer Wissenschaftlerin zu den Mosaiken im Markusdom und Frage zu den Wirkungen der Farben:

Die Beleuchtungsverhältnisse im Altarraum lassen insbesondere in den Rundungen der Apsiden oft zu wünschen übrig. Die einzelnen Tesserae, die in Summe das Bild ergeben, werden in unterschiedlichen Winkeln eingesetzt. Dies gilt sowohl für die bunten (Lapislazuli, Malachit usw.) als auch für die mit Goldfolie hergestellten Steinchen. Die zentrale Frage ist, wieviel Farbigkeit bei wechselnden Lichtverhältnissen überhaupt wahrnehmbar ist, bzw. inwieweit sich die Farben im direkten Nebeneinander gegenseitig „überstrahlen“. Ganz konkret gedacht: Was bleibt vom Schwarz übrig, wenn es auf goldenem Grund zu sehen ist? Welche Details sind überhaupt noch relevant, wenn ihre Farbigkeit nicht ausreichend wahrgenommen werden kann?

Herleitung einer Antwort und These dazu aus meinem aktuellen populärwissenschaftlichen Buch: Farben steuern das Erleben und Verhalten des Menschen, denn das ist ihre biologische und kulturelle Funktion „Die geheimnisvolle Macht der Farben. Wie sie unser Verhalten und Empfinden beeinflussen.“

Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Bibel, Joh8). Der neuplatonische Philosoph Plotin (*205, †270) prägte die christliche Metaphysik des göttlichen Lichts, die Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott. Das ewige Licht, welches in den Kirchen dieser Zeit unablässig in Form tausender Kerzen und Öllampen am Brennen gehalten wurde, symbolisiert die Anwesenheit Gottes auf Erden.

Bei den häufigen Prozessionen trugen Menschen Kerzen und Fackeln, die das Licht aus den Gotteshäusern in die Stadt brachten. „In dem Moment, als der Patriarch eine Kerze nahm, um all denen in der Kirche, die Fackeln hatten, das göttliche Feuer zu geben, sah er, wie die Kirche plötzlich von einem göttlichen Licht erfüllt wurde.“ (Brief an Konstantin Porphyrogennetos aus dem Jahr 947)

Die Tesserae (Mosaiksteinchen) wurden in verschiedenen Winkeln in den feuchten Putz gedrückt, um im Lichtschein flackernder Öllampen und Kerzen eine flackernde, bewegte und lebendige Illusion zu schaffen. „Goldene Mosaiksteinchen überziehen die Decke, und funkelnder Goldglanz flutet von ihnen herab, so daß Menschenaugen es kaum ertragen können. Man möchte glauben, die mittägliche Frühlingssonne zu sehen, wenn sie jegliche Höhe übergoldet.“ (Paulus Silentiarios, S. 341)

Wechselwirkungen von Farben und Licht

Die Mosaiktechnik ist nur dann zu verstehen, wenn man die Wechselwirkungen zwischen Licht und Farben zu Grunde legt, die bei der winzigsten Körperbewegung zum Leben erwachen. Durch die wechselnde Lage der goldenen Steinchen ändern sich die Reflexionen bei jeder winzigen Körperbewegung. Paulus Silentiarios beschreibt Art und Wirkung der Beleuchtung: „… an langen Ketten herabhängende silberne Polykandela, in die Glasbecher für das Öl eingesetzt sind, Polykandela in Form von Kreuzen, Einzelleuchten, mit Öl gefüllte Silberschalen, silberne, ölgefüllte Lampen, die als Kaufmannsschiffe gestaltet sind und Lampenständer, die sich in der Sockelzone und den Kapitellen befinden.“ (Paulus Silentiarios, S. 347-535, Laskarina Bouras, Byzantine Lighting Devices, JÖB 32/3 S. 479-491, Wien 1982) Heute, wo wir die Wände und Decken mit einzelnen Scheinwerfern ausleuchten oder ganz im Halbdunkel lassen, sind diese Wirkungen nicht mehr zu erkennen.

Link zum Sonderforschungsbereich der Universität Heidelberg „Materiale Textkulturen

Link zum Beitrag über den Workshop auf der Website des Sonderforschungsbereiches „Materiale Textkulturen“


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