Unsere Vorstellungen von der eigenen Lebenswirklichkeit und Identität basieren auf dem Leistungsvermögen unseres Nervensystems. Dessen genetisch vererbte Grundstruktur spannt den Erkenntnis- und Verständigungsrahmen auf, den wir durch unsere Aktionen selbst ausgestalten. Durch die Beschreibung unserer Erfahrungen, ganz gleich ob in verbaler oder anschaulicher Form, bilden wir ein Bewusstsein von der Art und Weise unserer Existenz in der Umwelt aus. Unsere Wirklichkeitsvorstellungen erreichen ein hohes Maß an Intersubjektivität, wenn wir sie beständig im Dialog mit der Umwelt zur Disposition stellen und aktualisieren. Die Herausforderungen unseres Alltags bilden die Lernumgebung, die Motivation sowie das Korrektiv für den virtuellen Möglichkeitsraum, in dem sich unser Denken ereignet und auf den wir unser Handeln gründen.

Worte evozieren bei Erblindeten überwiegend anschauliche Vorstellungen im Gedächtnis, die ihnen jedoch immer dann unwirklich erscheinen, wenn sie ihre Orientierung im Lebensalltag behindern. Andererseits bieten Worte auch keine Entsprechung für das Erlebnis von Blindgeborenen, die ihre Lebenswelt nach der erfolgreichen Augenoperation zum ersten Mal farbig und lichterfüllt erleben. An ihrem Staunen wird deutlich, dass wir uns oft über Worte verständigen, ohne einander tatsächlich zu verstehen.

Das gilt nicht nur für die Kommunikation von Blindgeborenen und Sehfähigen, sondern insbesondere für die von Experten und Laien, wie von Kindern und Erwachsenen oder von Schülern und Lehrern. Wenn wir die Strukturbildung unserer eigenen anschaulichen Vorstellungs- und Wahrnehmungswelt kennen und die damit verbundene Subjektivität und Begrenztheit jeglichen Wissens akzeptieren, eröffnen sich uns neue Möglichkeiten zur Verständigung. Sobald wir die Welt anschauen und nichts Neues mehr darin erwarten oder damit aufhören, das bereits Bekannte permanent zu hinterfragen, fehlt uns die notwendige Offenheit zur Aktualisierung und Fortentwicklung unseres Vorstellungsvermögens. Haben wir keine Fragen, hören wir auf zu lernen. Ein solcher Blick in die Umwelt gleicht einem Dialog, in dem wir alle Antworten bereits kennen.

Publikation „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“