Der von den Augen kommende visuelle Datenstrom wird zuerst von den älteren Regionen unseres Gehirns emotional bewertet, bevor er die höheren bewusstseinsfähigen Areale erreicht. Unser emotionaler Körperzustand stellt sich hierdurch unwillkürlich auf die instinktiv bedeutsamen Inhalte der Umweltsituation ein. Dazu zählen das Gefahrenpotential sowie das Potential zur Befriedigung unserer grundlegenden körperlichen Bedürfnisse. Die Veränderungsdynamiken der Umwelt sind meist viel zu schnell und zu komplex für die uns zur Verfügung stehenden Mittel der Ratio. Wer zuerst denken will, bevor er handelt, der braucht dafür ausreichend Zeit. Die Funktion unserer Emotionen und Gefühle bietet uns eine Orientierungs- und Handlungshilfe in Umgebungssituationen, deren Komplexität unsere zeitlichen oder kognitiven Möglichkeiten übersteigt. Emotionen und Gefühle dienen unserem Überleben.

Die erste emotionale Bewertung der visuellen Daten erfolgt im Stammhirn bereits nach etwa 100 Millisekunden. Bis wir etwas bewusst visuell wahrnehmen können, braucht unser Cortex dagegen mehrere Sekunden. Daher sehen wir bei einer Folge von Bildern im Zeittakt von weniger als einer Sekunde auch keine Inhalte mehr, obgleich wir emotional darauf reagieren. Die Ausschüttung von Hormonen versetzt den gesamten Körper in einen emotionalen Erregungszustand, der Gefühle wie Angst, Liebe, Hass, Zuneigung oder Gewalt auslösen kann. Wir sind daher nicht in der Lage, Menschen, Orte und Dinge frei von Emotionen und Gefühlen oder auch wertneutral zu betrachten.

Unwillkürlich wird unser Blick auf wichtige Ereignisse gelenkt, längst bevor wir deren Bedeutung gesehen und in Zusammenhang mit unserer Situation gebracht haben. Doch nicht nur unser Aufmerksamkeitsbewusstsein und unsere Interessen an der Umgebung werden maßgeblich von Emotionen und Gefühlen gelenkt, sondern auch die von uns wahrgenommenen Inhalte. Die evolutionäre Funktion unserer Gefühle und Emotionen bildet den Schlüssel zum Verständnis der Intuition oder des „Bauchgefühls“. Unsere Emotionen und Gefühle sind nicht irrational, sondern sie bilden Fakten, die den Prozess der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung maßgeblich beeinflussen.

Publikation „Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz“